Moorehawke 01 - Schattenpfade
sie an einen Platz
geleitet zu werden wünsche. So wurde das immer ausgedrückt: »Wünscht Ihr, an einen Platz geleitet zu werden?« Woraufhin man zu entgegnen hatte: »Ja« , denn sonst wusste man nicht, welchen Sitz der König einem zugewiesen hatte.
Man setzte Wynter nahe ans Kopfende der linken Hohen Tafel – eine sehr gute Position. Während die Bänke weiter unten zu beiden Seiten des Tisches rasch besetzt wurden, füllten sich die oberen nur allmählich, da diese bevorzugten Höflingen vorbehalten waren.
Nun strömte das einfache Volk herein und nahm seine Plätze ein: Für sie gab es keine Pagen und kein Zeremoniell, nur fröhliches Drängeln und Schieben. Jeder musste am Tisch sitzen, bevor die königliche Familie eintrat, damit sich alle gemeinsam erheben und dem König ihren Gruß entbieten konnten. Wer nicht vor dem König im Saal war, musste drau ßen bleiben.
Wynter beobachtete Christopher, der am anderen Ende im dichten Gewühl hereinspaziert kam, hier nickte, dort dem einen oder anderen zulächelte, der ihn zu kennen schien. Plötzlich lief er schnurstracks auf eine sehr hübsche, dunkelhaarige Frau mit trotziger Miene und einem roten Mund zu. Wynter schnaubte innerlich, als er sich bückte, ihr etwas ins Ohr flüsterte und dabei seine Grübchen spielen ließ. Umgehend rutschte die Dunkelhaarige ein Stück auf und machte ihm Platz. Der Mann zu ihrer anderen Seite sagte lachend etwas, worauf Christopher ihm sein freches Katergrinsen zeigte und sich setzte.
Inzwischen war der Saal beinahe voll und heizte sich immer mehr auf. Die Fächerdiener zogen an ihren schweren Seilen, das sanfte Rauschen der großen Deckenfächer setzte ein, und es dauerte nicht lange, bis die Luft merklich kühler wurde. Schankknaben servierten eisgekühlten Erdbeertrank,
doch nichts kündigte einen glanzvollen Auftritt aus den königlichen Gemächern an.
Als Wynter den ersten Schluck nahm, stimmten die Musiker auf der Empore gerade eine leise Melodie an. Unwillkürlich schielte sie zu Christopher hinüber. Tatsächlich – auch er hatte den Kopf der Musik zugewandt, wenn auch sein Gesicht aus Wynters Blickwinkel nicht zu erkennen war. Da bemerkte die Frau neben ihm zum ersten Mal seine Hände und wich erschrocken ein wenig zurück. Hätte sich dasselbe an der Hohen Tafel abgespielt, dann wäre kein Wort darüber verloren worden, doch gleichzeitig hätte sich die Gesprächspartnerin in Windeseile vor ihm zurückgezogen. Dies jedoch war eine einfache Frau, und so klopfte sie Christopher auf den Arm und deutete auf seine fehlenden Finger.
Christopher hielt beide Hände hoch, als wollte er sagen: Was ist das denn? Dann grinste er unbekümmert und stürzte sich umständlich und lebhaft in eine Geschichte, die mit einer hochgezogenen Augenbraue und einer vielsagenden Pause endete. Die Frau wirkte für einen Moment entsetzt, doch dann brachen beide in Gelächter aus. Sie wischte sich Tränen aus den Augenwinkeln, sagte etwas und nahm einen Schluck aus ihrem Becher. Christopher flüsterte ihr seinerseits etwas ins Ohr, das sie erröten ließ. Man konnte sehen, wie sich ihre Lippen um den Rand des Gefäßes zu einem Grinsen wölbten.
Wynter verdrehte die Augen und wandte ihre Aufmerksamkeit einem bekannten Gesicht zu: Andrew Pritchard, der gerade ein Gedeck weiter zu ihrer Rechten seinen Platz einnahm. Sie nickten einander höflich zu, bevor er sich zu seinem Nebenmann beugte und ein Gespräch begann.
Links von ihrem Tisch trat ein Page aus den königlichen Gemächern, und sofort erhob sich gespanntes Raunen im
Saal. War es endlich so weit? Doch der Junge schloss die Tür vorsichtig hinter sich, und die Menge nahm ihre Unterhaltung wieder auf, während er sich einen Weg zwischen den Tischen hindurchbahnte.
Gewiss ein Botengang für einen Ratsherrn, dachte Wynter. Ihre Erleichterung sollte nicht von langer Dauer sein; schmerzhaft zog sich ihr Magen zusammen, als deutlich wurde, dass der Page auf die Bürgertafel zusteuerte.
Allmächtiger!
Sie war nicht die Einzige, die den Weg der kleinen Gestalt verstohlen verfolgte. Niemand betrat oder verließ unbemerkt das königliche Quartier, und nicht wenigen Anwesenden stand die Neugier ins Gesicht geschrieben, als der Knabe schließlich vor Christopher Garron verharrte und ihn am Arm berührte.
Was gesprochen wurde, konnte Wynter nicht hören, doch sie sah den Schreck und die Verwirrung in Christophers Gesicht. Sie schluckte und beugte sich beunruhigt vor. Der Page machte eine
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