Moorehawke 01 - Schattenpfade
»überzähliges« Messer aushändigte. Der Junge betrachtete es erstaunt und stellte eine höfliche Frage, die Pursuant mit einem Achselzucken und einer nachlässigen Geste beantwortete. Man hat mir wohl aus Versehen zwei gegeben . Verärgert knirschte Wynter mit den Zähnen. Kindisch, albern, töricht …
Da endlich öffnete sich die Tür zu den königlichen Gemächern, und sofort wandte sich die Aufmerksamkeit aller dem
sehr jungen Pagen zu, der auf die obere Stufe des Podests kletterte und mit hoher, zittriger Stimme verkündete: »Seine Majestät, der gütige König Jonathon, heißt Euch essen, da er durch … äh …« Fahrig sah das Kind über die Schulter, und jemand zischte ihm durch die halb geöffnete Tür etwas zu. »… dringende Staatsgeschäfte aufgehalten wurde. Da sein geliebtes Volk in seiner Abwesenheit nicht Hunger leiden soll, heißt er Euch mit dem ersten Gang beginnen, in … in der … in der Zuversicht, dass er sich Euch bald zugesellt.« Hastig floh der kleine Page von dem Podest, woraufhin die Diener mit den riesigen, dampfenden Tabletts durch den Saal schritten.
Die Entscheidung, wer als Erster von dem Fleisch zu wählen hatte, wurde dankenswerterweise den beiden am Kopfende der Hohen Tafeln aufgebürdet: Francis Coltumer und Laurence Theobald. Da sie unmittelbar neben dem königlichen Podest saßen, näherten sich die Diener ihnen sicherheitshalber zuerst. Jeweils zu zweit stellten sie sich vor die betagten Männer, hoben die Tabletts von ihren Schultern und boten sie den Herren an. Als alte Hasen in diesem Spiel blickten Francis und Laurence einander quer durch den Raum an, nickten und spießten dann gleichzeitig das jeweils kleinste Geflügel auf, das sie auf den Sevierplatten entdecken konnten. Ein Seufzer der Erleichterung brandete durch die Menge, während die beiden das Fleisch auf ihre Teller legten und behutsam kleine Bissen davon abschnitten.
Allmählich erhoben sich erneut leise, zaghafte Gespräche, untermalt von der Spielmannsmusik, und die Tabletts wurden von Gast zu Gast getragen. Christopher suchte immer noch nach seinem Messer, den Kopf jetzt unter dem Tisch.
»Christopher …«, raunte Wynter ihm zu. Das Fleisch war auf dem Weg zu ihnen. »Christopher!« Sie trat ihn, und er
schnellte hoch, knallte mit dem Kopf unter die Tischplatte und fluchte auf Hadrisch.
Er setzte sich auf, rieb sich den Kopf und lächelte beifällig, als das duftende Fleisch auf seine Nasenhöhe gesenkt wurde. »Mhm«, machte er und leckte sich die Lippen.
»Sag mir, welches du möchtest«, wisperte Wynter, »dann kann ich …«
Doch noch ehe sie den Satz beenden konnte, hatte Christopher die Hand unter den Tisch schnellen lassen und den längsten und garstigsten Dolch hervorgezogen, den Wynter je aus einem Stiefel hatte auftauchen sehen. Er spießte sich ein hübsches, fettes Tierchen auf und wandte sich ihr zu. »Darf ich dir auch eins reichen?«, fragte er, ohne die Mischung aus Furcht und Empörung, mit der die gesamte Tafel ihn musterte, auch nur wahrzunehmen.
Wynter riss sich vom Anblick der langen Reihe sauertöpfischer Gesichter hinter Christophers Schulter los, bemühte sich um eine ernste Miene und gab zurück: »Ich hätte gern das Rebhuhn dort, Christopher.«
Trotz der fehlenden Mittelfinger hatte er keine Schwierigkeiten, sein Geflügel zu zerteilen; gebannt beobachtete sie, wie ordentlich er das Fleisch vom Knochen ablöste. Erst, als er sie wieder ansprach, bemerkte Wynter, dass sie ihn angestarrt hatte. »Eine sehr wirksame Rache, nicht wahr?«, sagte er gelassen, während er die verstümmelten Hände in eine Fingerschale tauchte und an der Serviette abwischte. »Sie sollte mich all dessen berauben, was ich bin, mir aber dennoch die Fähigkeit zum Arbeiten belassen.« Er aß weiter, ohne sie anzusehen, seine Augen suchten den Saal ab.
Das ist nicht die lustige Geschichte, die er der Dunkelhaarigen aufgetischt hat, dachte Wynter. Er erzählt mir etwas, das nicht jeder weiß. Warum nur? Sie ließ sich seine Worte durch den
Kopf gehen. Rache, hatte er gesagt. Nicht Strafe. Rache. Wen hast du beleidigt, dass er dir so wehtun wollte? Einen Bruder? Einen Ehemann vielleicht? Doch dann fiel ihr Razis heitere Bemerkung wieder ein: Christopher werde noch im Teerfass enden. Einen solchen Scherz würde er wohl kaum machen, wenn Christopher wegen seiner Lasterhaftigkeit bereits so Furchtbares hätte erleiden müssen.
Wieder wurde die Tür zu den königlichen Gemächern geöffnet, und
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