Moorehawke 01 - Schattenpfade
Christopher sie hielt, fand Wynter.
Nun trat Razi durch die Tür. Er hatte seine Arztrobe abgelegt und trug jetzt den scharlachroten langen Mantel und die enge schwarze Hose, die ihm zu formellen Anlässen vorgeschrieben waren. Die beiden Soldaten hinter ihm hielten bedrohlich wenig Abstand. Sie trieben ihn voran, zwangen ihn, einen steifen Schritt nach dem anderen zu machen. Ziellos ließ er den Blick schweifen, vermied es, irgendjemandem in die Augen zu sehen, weigerte sich, den Kopf zu heben. Er bemühte sich, gar nicht anwesend zu sein. Diesen Gesichtsausdruck hatte Wynter schon häufiger bei Männern gesehen – meistens auf dem Weg zum Schafott. Sie spürte, wie Christopher neben ihr erstarrte.
»Was geht da vor?«, murmelte er. »Er sieht aus wie ein in die Enge getriebenes Tier.«
Ja. Das auch. Dieses Flattern der Augen, diese verängstigte Starre seiner Miene. Als warte er nur auf eine Gelegenheit, aus der Deckung zu brechen und zu fliehen. Wynter schluckte heftig und verhielt sich so still wie möglich.
Inzwischen näherte sich Razi der unverrückbaren Barriere aus Ratsherren. Er drängte mit der Schulter dagegen, ohne ihnen in die Gesichter zu sehen, versuchte verzweifelt, an ihnen vorbeizukommen und seinen Platz neben Lorcan einzunehmen. Doch die Soldaten schoben ihn von hinten unerbittlich weiter, und die Ratsherren wichen nicht zur Seite. Langsam wurde Razi an ihren Rücken entlang zu der Treppe gestoßen, die auf die obere Podestebene führte. Er geriet ins Taumeln, als sein Fuß die erste Stufe erklomm, und Wynter sah, wie er den Blick hob und dem des letzten Ratsherrn begegnete. Kämmerer Heron.
Furcht, Schmerz, Zorn – all das lag in Razis Augen und trieb Wynter wütend von der Bank empor, im gleichen Moment, in dem auch Christopher in die Höhe schnellte. Doch ihr Ungestüm ging dank des gleichzeitigen Erscheinens des Königs unter. Sofort sprang die Menge auf, um den traditionellen Gruß zu entbieten. Prachtvoll wie eh und je schritt König Jonathon an Soldaten, Ratsherren und seinem unehelichen Sohn vorbei und eilte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, zu seinem Platz. Die Erleichterung im Saal war fast greifbar, als die Menschen ihre Becher erhoben und riefen: »Es lebe der König!«
Vor dem großen Thron, der die oberste Ebene beherrschte, blieb Jonathan stehen und hob die Hand. Setzt euch, setzt euch, bedeutete er seinem Volk, und die Menge gehorchte. Doch alle waren verwirrt darüber, dass er selbst noch stand
und die Hälfte seiner Ratsherren weiterhin den Zugang zur unteren Stufe verstellte, während die andere Hälfte bereits mit steinernen Gesichtern auf ihren Plätzen saß. Und warum verharrte Fürst Razi nach wie vor am Fuße der Treppe, wo er doch seinen Platz an der Tafel einnehmen und den König begrüßen sollte wie alle anderen?
Da gab Jonathon den Soldaten in Razis Rücken ein Zeichen, und sie drängten ihn entschlossen weiter. Wynter konnte erkennen, dass er sich gegen die Männer stemmte, sein Gesicht war eine starre Maske des Widerstands. Doch wenn er nicht zu Boden fallen und von ihnen weitergeschleift werden wollte, blieb ihm keine Wahl – er musste ihrem Druck nachgeben. Schritt für Schritt wurde er die Stufen zur königlichen Tafel emporgeschoben.
Alle im Saal, einschließlich Wynter und Christopher, hatten ihre Plätze wieder eingenommen, und alle Augen weiteten sich entsetzt, als der Bastard des Königs auf den Thron zugetrieben wurde. Selbst die Spielleute waren verstummt. In der Totenstille konnte Wynter Razi schwer atmen hören. Sie vernahm auch das Kratzen seiner Stiefel auf dem Podest, als er die Hacken in den Boden stemmte. Unnachgiebig drückten die Soldaten weiter, schoben ihn ein Stück, bis er wieder selbst einen Schritt machte.
Sie zwangen ihn zum dritten Thron: Alberons Platz, dem Platz des rechtmäßigen Thronfolgers. Razi stieß ein ersticktes Schluchzen aus, als die Wachen ihm die Hände auf die Schultern legten. In der Stille war es laut und deutlich vernehmbar, und Jonathon machte eine ruckartige Geste zur Spielmannsempore. Sofort verfielen die Musikanten in eine grässlich verstimmte Melodie – ihre Finger mussten vor Schreck erstarrt sein. Wütend funkelte Jonathon sie an und brüllte etwas, worauf sie einen heiteren, flotten Kanon anstimmten
und Jonathon die zornigen Augen auf seinen Sohn richtete.
Razi begegnete dem Blick des Königs mit solchem Flehen, solchem Schmerz, solcher Verzweiflung, dass Wynter glaubte, ihr Herz müsste
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