Moorehawke 01 - Schattenpfade
buchstäblich brechen. Doch Jonathon blieb unerbittlich – als er nach unten zeigte, drückten zwei riesige Soldatenpranken Razis Schultern hinab. Und da saß er nun auf Alberons Platz: Razi, der Bastard, plötzlich und unwiderruflich Anwärter auf den Königsthron.
Die Diener brachten den zweiten Gang: mit Knoblauch, Dill und eingelegten Senfkörnern gebackenen Lachs. Es roch köstlich, doch es gab kein anerkennendes Murmeln in der Menge. Alle saßen steif und großäugig wie Lemuren auf ihren Bänken, während der König dieses Mal von seinem Recht auf die erste Wahl der Speisen Gebrauch machte.
Von ihrer Position auf der unteren Podestebene aus boten die Diener Jonathon die Fischplatten an, und er beugte sich vor und tat sich von dem rosafarbenen Fleisch auf. Nach ihm musste der Tradition gemäß der Zweithöchste im Rang bedient werden. Da Alberon nicht anwesend und die Königin tot war, waren nun also Lorcan und Razi auf der unteren Podeststufe an der Reihe. Danach die Ratsherren, die Gäste an den Hohen Tafeln und zum Schluss das einfache Volk. Niemand wollte sich eingestehen oder ausmalen, wie schrecklich es für Razi sein musste, auf Alberons Platz das Essen angeboten zu bekommen.
Der König bedeutete den Dienern, weiterzugehen, doch die beiden Männer blieben unschlüssig stehen. Razis Fingernägel krallten sich in die Tischplatte. Zornig zeigte Jonathon erneut auf Razi. Die Diener blinzelten nur – diese Treulosigkeit gegenüber dem wahren Thronerben schien sie zu lähmen. Da brüllte Jonathon plötzlich los, stand halb auf und erhob
drohend das Messer. Die beiden Diener taumelten rückwärts, verloren beinahe das Gleichgewicht, als sie gegen Lorcan stießen, und trippelten dann seitlich weiter, bis die Servierplatte vor dem unglücklichen Razi angelangt war. Er schloss die Augen und drehte den Kopf weg.
Ohne ihn anzusehen, raunte der König Razi etwas zu und begann zu essen. Was Razi auch entgegnete, es verfinsterte die wütende Miene Jonathons noch mehr. Er lehnte sich über den Tisch und knurrte Razi etwas ins Ohr. Der riss den Kopf herum, den gleichen brutalen Ausdruck im Gesicht wie sein Vater, und stieß zwischen gefletschten Zähnen eine kurze Antwort hervor.
Einen versteinerten Augenblick lang starrten Vater und Sohn einander an, dann reckte sich der König über den Tisch und nahm eine Handvoll triefenden Fisch von der Servierplatte. Er ließ ihn auf Razis Teller fallen und wandte sich ab, als wäre das Thema damit erledigt. Mit einer herrischen Kopfbewegung schickte er die Diener weg, tauchte die Hände in die Fingerschale und widmete sich wieder seinem Essen.
Und so ging das schreckliche Festmahl weiter. Bei jeder Speise streckte Jonathon die Hand aus und klatschte noch mehr auf den überquellenden Teller seines Sohnes, bis der Tisch vor Razi mit zahllosen Saucen und Pasten und Ölen besudelt war. Am Ende saß Razi mit dem Rücken an die Lehne gepresst, den Kopf angeekelt zur Seite gedreht.
Der König aß alles, was man ihm anbot, gleichzeitig ließ er den Blick grimmig über die eingeschüchterte Menge schweifen. Wenn er jemanden ertappte, der nicht aß oder eine bedrückte Miene machte, forderte er ihn donnernd auf, die Ursache für seinen Unmut zu erklären. Schon bald kauten und schluckten und lächelten alle verbissen.
Nur Lorcan, Wynter, Christopher und drei der Ratsherren
schlossen sich Razi in seiner Essensverweigerung an, und irgendwie gelang es dem König, sie nicht zu bemerken.
Endlich wurden Obst und Käse gereicht und Razis widerwärtiger Teller abgeräumt, die Tischplatte vor ihm abgewischt und je ein hoher Becher Süßwein vor ihm und dem König abgestellt. Wynter kam es vor, als wäre Razi in eine Art geistige Starre verfallen, denn er schien nichts davon wahrzunehmen. Reglos wie eine Statue saß er da, die Hände auf den Armlehnen von Alberons Thron ruhend, die Augen auf den gesäuberten Tisch gerichtet, das Gesicht bar jeder Empfindung.
Christopher und Wynter hatten seit dem zweiten Gang kein Wort miteinander gewechselt. Beide hatten alle Speisen abgelehnt und lediglich mehrere Becher Erdbeertrank geleert. Wynter hatte das königliche Podest nicht aus den Augen gelassen und sorgenvoll abwechselnd Razi und ihren Vater angesehen, der sich nicht mehr gerührt hatte, seit er auf seinen Platz gesunken war. Christopher wiederum hatte während des gesamten Festmahls die Menge beobachtet, hatte Blicke eingeschätzt, Bewegungen verfolgt und so viele Gespräche belauscht wie
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