Moorehawke 01 - Schattenpfade
wandte horchend den Kopf, und Lorcan erstarrte, als die Musik abbrach. Dem Brüllen folgte ein Schrei, wie bei einer Prügelei in einer Bierschenke. Man hörte schnelle Schritte und dann das schauerlichste aller Geräusche: den Fanfarenstoß, der die Wachsoldaten zusammenrief – das Alarmsignal für einen Angriff auf das Leben des Königs!
Meuchler
R eglos verharrten Wynter und ihr Vater in der Dunkelheit, als sich in Windeseile leise Schritte über den Gang näherten. Ein Mann rannte an dem Durchgang vorbei, lediglich Schemen von Mantel und fliegenden Armen und Beinen, dann war er fort. Wynter wollte herausstürmen, um die Wachen zu rufen, doch sie zog sich rasch wieder zurück, als weitere Schritte ertönten.
Christopher schoss vorbei, das lange Haar flatterte hinter ihm her. Er war da – und sogleich wieder verschwunden. Wynter sprang durch die Tür, sie war nicht sicher, ob sie ihn tatsächlich gesehen hatte.
Als sie um die Ecke schlitterte, hatte der fliehende Mann schon beinahe das Ende des Gangs erreicht. Sie sah, wie er verzweifelt über die Schulter zurückblickte, erkannte sein Entsetzen, da Christopher aufholte. Plötzlich machte Christopher einen hohen Satz in die Luft und trat mit beiden Fü ßen zu. Er traf den Mann genau zwischen den Schulterblättern, und beide gingen ineinander verkeilt zu Boden.
Wieder rannte jemand an ihr vorbei, streifte dabei ihre Schulter, doch Wynter nahm ihn kaum zur Kenntnis. Gebannt beobachtete sie Christophers kaltblütige Raserei.
Noch im Fallen hatte er die Füße wieder unter sich gebracht, und ehe der Flüchtige bemerkt hatte, dass sie beide
auf dem Boden gelandet waren, saß Christopher schon auf ihm. Es war seine Lautlosigkeit, die Wynter am meisten verstörte – das und die unfehlbare Treffsicherheit jedes Hiebs. Mit dem ersten Schlag traf er seinen Gegner genau zwischen den Augen, so dass dessen Hinterkopf auf den Boden knallte, und machte ihn allein dadurch kampfunfähig. Doch dabei beließ er es nicht. Christopher zog den Arm zurück, immer weiter, und genau daran würde sich Wynter später erinnern: diese Haltung und dann die Schläge, jeder davon aufgesplittert in das Ausholen, die in der Luft schwebende Faust und den Moment, als der Hieb im Gesicht seines Gegners landete. Blut spritzte dem Mann aus der Lippe, der Nase, dem Auge. Da waren nur Blut, Christophers Faust und noch mehr Blut, und Christopher bewegte sich vollkommen geräuschlos, das Gesicht verzerrt. Sein Opfer lag seit dem ersten Treffer schlaff und reglos unter ihm, war vielleicht bereits tot, und doch versuchte er immer noch, ihm jedes Quäntchen Leben aus dem Leib zu prügeln.
Der zuletzt an Wynter vorbeigelaufen war, kam schwankend neben Christopher zum Stehen, und erschrocken erkannte sie, dass es Razi war. Beim Anblick seines rechten Ärmels – schwarz und glänzend von frischem Blut, seine Hand rot – stieß sie einen leisen Schrei aus. Blut tropfte auf die Steinplatten, als Razi neben seinem vor Zorn rasenden Freund auf die Knie fiel. Mit dem unversehrten Arm umschlang er Christophers Brustkorb und zerrte ihn zurück.
»Genug! Genug! Christopher!«, rief Razi. »Wir brauchen ihn lebend! Lebend, Chris! Hör auf!« Jetzt riss er so heftig an ihm, dass beide nach hinten kippten. Christopher gab immer noch keinen Laut von sich.
Dann waren plötzlich Soldaten da, stellten Razi und Christopher auf die Füße, zerrten den Geprügelten hoch und legten
ihm Fesseln an. Razi stieß ein Knurren aus und wehrte die Versuche der Wachen ab, ihn von Christopher zu trennen, der ihn benommen und verwirrt anstarrte. Und dann stürzte sich Christopher plötzlich auf die Soldaten.
Er brüllte etwas auf Hadrisch, sprang hoch und schmetterte einem von ihnen seine Faust genau zwischen die Augen. Der Soldat fiel um wie ein Sack Mehl. »Wo warst du?«, schrie er. »Wo warst du, du nutzloser, dreckiger Hundsfott!« Und noch während der eine fiel, wirbelte Christopher herum, brüllte erneut und rammte dem anderen Riesen neben sich das Knie in die Lenden.
Nun kamen weitere Wachen herbei, doch Razi reckte den Arm in die Luft und schrie: »Fort mit euch! Gott verfluche euch alle, macht euch fort! Nehmt diesen Abschaum mit und geht!«
Erstaunlicherweise gehorchten sie. Christopher, Wynter und Razi blieben allein zurück, keuchend und verwundert um sich blickend, als wäre das alles nur ein böser Traum gewesen.
»Razi«, begann Wynter und fasste ihn am Arm. »Du blutest.«
Doch er hörte nicht zu. Er sah
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