Moorehawke 01 - Schattenpfade
sie sahen den kleinen Pagen herausschlüpfen und hinter ihrer Bank eilig den Weg zum unteren Ende des Saals einschlagen.
Blitzschnell hielt Christopher den Jungen am Hemd fest und zog ihn zu sich heran. Wynter stockte der Atem, peinlich berührt sah sie sich um. »Christopher«, flüsterte sie, »das kannst du nicht machen!«
Er kümmerte sich nicht um sie, sondern zischte dem verschreckten Kind ins Ohr: »Was ist da drin los, kleiner Mäuserich?« Sein hadrischer Akzent war plötzlich sehr stark.
Ängstlich sah sich der Page um und wehrte sich gegen Christophers Griff. »Das darf ich Euch nicht sagen, Hoher Herr. Das wisst Ihr doch.«
»Ich bin kein Hoher Herr, kleiner Mäuserich. Ich sitze nur hier. Was ist mit Fürst Razi? Geht es ihm gut?«
»Christopher!« Wynter legte ihm die Hand auf den Arm, aber er schenkte ihr keine Beachtung und zog das zappelnde Kind noch näher an sich heran. Die anderen Gäste gafften und lauschten angestrengt. Auch die massigen Wachsoldaten zu beiden Seiten des Saals wurden allmählich aufmerksam. » Christopher ! Du landest noch im Verlies!«
»Ich darf nicht, Herr!« Inzwischen quiekte das Kind vor Angst beinahe so hoch wie eine Fledermaus. »Ich habe doch eine Nachricht zu überbringen, Herr! Lasst mich los!«
»Für wen ist die Nachricht?«
Bang sah sich der Junge um. Die Wachen verließen ihre Posten, doch in seinen vor Furcht geweiteten Augen mussten sie ihm sehr langsam vorkommen. »Für den Freien Garron, Herr. Es ist sehr wichtig, Herr. Bitte, lasst mich los.«
Christopher lockerte den Griff, und der Page wollte schon Reißaus nehmen, da erwischte Wynter ihn gerade noch am Hemdzipfel. »Dies hier ist Christopher Garron, Kind. Richte ihm deine Nachricht aus.«
Entsetzt und ungeduldig stöhnte der Kleine. »Nein, Edle Dame! Der Freie Garron an der Bürgertafel. Oh, bitte, Edle Dame, bitte, es ist wichtig. Fürst Razi sagte, es eilt sehr.«
Da richtete sich Christopher halb auf, erhob die Stimme, und eine schreckliche Wut, furchtbar und wild, kroch in seine Züge. Er machte Wynter Angst, und auch der kleine Page duckte sich unter dieser neuen, finsteren Bedrohung.
»Ich bin der Freie Garron, Mäuserich. Und jetzt überbring mir die gottverfluchte Nachricht.«
Die Wachen hatten ihren Tisch schon beinahe erreicht, doch bevor sie eingreifen konnten, nahm der Junge Christopher endlich näher in Augenschein. Das Haar, die grauen Augen und endlich auch die Hände. Die Hände besiegelten es, und das Kind fiel vor ihm auf die Knie. »Oh, Herr! Vergib mir! Ich komme zu spät!«
Jetzt wirkten die Soldaten verwirrt und rückten langsam wieder ab, da deutlich wurde, dass der Page den Gesuchten gefunden hatte. Mit einem raschen Griff stellte Christopher ihn auf die Füße und schüttelte ihn. »Ich bin kein Herr, Kind! Wie lautet die Nachricht? Ist mein Herr Razi wohlauf?«
»Hoher H… Freier Garron, Herr. Fürst Razi schickt mich … schickt mich, um …« Das Kind hatte Tränen in den
Augen, und Wynter staunte, wie ungerührt Christopher blieb. Er funkelte das arme Würmchen an, ihm ging es nur um die Nachricht. »Um Euch zu sagen, dass Ihr nicht … du lieber Gott! Er sagte, Ihr dürftet auf keinen Fall eine Einladung an die Hohe Tafel annehmen! Ihr müsst beide Seiten des Saals im Auge behalten!«
Fluchend schob Christopher das Kind von sich und blickte sich um. Einen schrecklichen Moment lang fürchtete Wynter, er würde versuchen, in die königlichen Gemächer zu stürmen. Doch dann wirbelte er wieder zu dem kleinen Pagen herum, packte ihn am Arm und knurrte: »Sag Fürst Razi, dass es zu spät ist! Sag ihm, er hat sein zweites Augenpaar eingebüßt. Frag ihn, was ich tun soll. Hörst du mich, Junge? Frag ihn, was er mir befiehlt!« Damit gab er ihm einen kräftigen Schubs, so dass der Page die ersten Schritte schlitternd und den Rest des Wegs eilig hastend zurücklegte.
Wynter hatte sich halb umgewandt und musterte Christopher, der dem Pagen nachsah. Seine Züge waren hart, Wynter kamen sie sogar brutal vor. Für ihn zählte nur, dass der Page ungehindert die Tür zu den königlichen Gemächern passierte, nichts anderes im Saal hatte für ihn Bedeutung. Und plötzlich begriff Wynter etwas – es war, als fiele unvermittelt ein Lichtstrahl auf diesen Mann und verändere ihn in ihren Augen von Grund auf.
Christopher Garron war nicht hier, weil er sich etwas erwartete. Er war nicht hier wegen des Überflusses, wegen des Essens, ja nicht einmal wegen der Frauen. Wynter
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