Moorehawke 01 - Schattenpfade
um den König herumschlich. Jonathon selbst stellte sie sich mit gesenktem Kopf und knurrend wie ein Ungeheuer vor, dem Rauch aus den Nasenlöchern dringt. Sie hielt den Atem an.
»Was sagen sie?«, brummte ihr Vater wieder, und sie klappte schon den Mund auf, um zu berichten, doch da sprach Razi weiter, und sie drückte das Ohr erneut an das Holz der Tür.
»Was ist all das wert? Die Galgen. Die Unterdrückung. Inquisitoren. Herrgott nochmal! Du warst nie grausam, Vater,
und jetzt scheint es, als wolltest du alles und jeden opfern … und niemand weiß, warum …«
So leise sie konnte, berichtete Wynter alles, dann hielt sie inne, während Razi auf eine Antwort wartete.
Lorcan hob matt den Arm, seine Augen waren nur mehr glänzende Schlitze. »Hat er schon etwas gesagt?«, fragte er flüsternd.
Sie schüttelte den Kopf. Im Nebenraum war es völlig still. Dann war es wieder Razi, der das Wort ergriff. »Wo ist mein Bruder? Wo ist Alberon?« Als immer noch keine Entgegnung vom König kam, wurde Razis Stimme fordernder, härter. »Was ist die Blutmaschine?«
»Er hat gefragt, was die Blutmaschine ist.«
Lorcan stieß einen Schrei aus, der Wynter so erschreckte, dass sie herumschnellte und ihren Vater anstarrte. Gleichzeitig brüllte Jonathon im Zimmer nebenan ähnlich laut und entsetzt.
»NEIN!« Lorcan umklammerte die Bettdecke mit seinen riesigen Tischlerfäusten und stierte Wynter mit weit aufgerissenen Augen an. »NEIN!« Mühsam stützte er sich auf die Ellbogen, das Gesicht dunkelrot, völlig außer sich. »Hol ihn rein!«, rief er. »Schaff ihn sofort hier herein!«
»Wen?«, fragte sie verwirrt.
»Den König! Den verdammten König!«
Als Wynter die Tür aufriss, standen Razi und Jonathon am anderen Ende des Raums und sahen einander erschrocken an. Der König wirkte aufs Äußerste bestürzt. »Eure Majestät …«, begann Wynter zaghaft, doch da hörte man Lorcan schon zornentbrannt brüllen.
»Jonathon! Komm her, gottverflucht! Komm sofort her!« Als Razi sah, wie Lorcan sich in wilder Anstrengung von der Matratze hochstemmte, keuchte er entsetzt auf und eilte zu
ihm. Doch Lorcan scheuchte ihn mit einer Handbewegung fort und richtete seinen Blick an Razi vorbei auf den König. Der trat misstrauisch vor, das Gesicht bleich, die Augen hohl.
»Du! Du …« Lorcan fehlten offenbar die Worte, wütend presste er die Kiefer aufeinander. Jonathon sah ihn immer noch unverwandt und mit undeutbarer Miene an.
»Vater«, flüsterte Wynter, aber sie war mit Razi abgedrängt, an den Rand gefegt worden von diesem Wirbelsturm, der viel tiefer, viel dunkler in die Vergangenheit reichte. Razi streckte Wynter die Hand entgegen, und sie ergriff sie.
»Du hast es mir versprochen!«, knurrte Lorcan wutschnaubend.
Jonathon neigte den Kopf zur Seite, als könnte er so den stiebenden Funken von Lorcans Zorn ausweichen.
Unvermittelt verließen Lorcan plötzlich die Kräfte, er ließ sich auf die Seite fallen, seine Lippen waren fast weiß. »Du hast es versprochen ! «
Jonathon trat ans Bett und betrachtete seinen Freund, der aussah wie eine zornige Leiche. Lorcans Augen glitzerten vor Wut, und er wich dem Blick des Königs nicht aus. Erst jetzt schlich sich zögerlich eine Erkenntnis in seine Miene.
»Mein Gott! Das war immer schon dein Plan, ist es nicht so? Deshalb hast du mich fortgeschickt! Es ging nicht um die Verhandlungen mit den Nordländern. Es ging nicht darum, das Pfand für diesen Hurensohn Shirken zu spielen. Sondern darum, dass ich dir nicht im Wege sein sollte … Es war … Aaaah!« Lorcan hielt sich die Fäuste vor das Gesicht und stieß einen gedehnten Klagelaut aus. »Und Alberon hast du mit hineingezogen. Deinen wunderbaren, strahlenden Jungen! Und Oliver! Oliver ! Oh, du Bastard! Oh, Jonathon, du elender Bastard!«
» Du hast sie gebaut!«, fauchte Jonathon vorwurfsvoll. Seine
Hände waren jetzt ebenfalls zu Fäusten geballt, die Schultern gebeugt, er ragte über dem liegenden Mann auf wie eine Felswand, die jeden Augenblick einstürzen konnte. »Du hast sie gebaut, du Heuchler! Komm mir jetzt nicht …«
»Ich war siebzehn ! «, donnerte Lorcan. »Und du hast es versprochen ! Nach dem ersten Mal hast du einen Eid geleistet!«
»Die Lage hier wurde verzweifelt, Lorcan, du hast ja keine Ahnung.«
»So verzweifelt kann keine Lage sein!«, fauchte Lorcan. Seine Wangen waren feucht vor Tränen – so hatte Wynter ihren Vater noch niemals gesehen. Sie quetschte Razis Hand so fest, dass sie die
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