Moorehawke 01 - Schattenpfade
Lorcans Stimme klang krächzend, eindringlich, und er bewegte die Hand, wie um sie nach Razi auszustrecken. »Ich bitte Euch, ich flehe Euch an. Vergebt Ihr mir?«
Razi schloss die Augen. Wynter befürchtete, er würde sich von ihrem Vater abwenden, und sie sah Lorcan an, dass er das Gleiche dachte.
»Ich weiß«, sagte Razi mit gesenktem Kopf, »dass Ihr ein guter Freund seid, Lorcan. Ihr wart immer ein sehr …« Die Stimme versagte ihm. Plötzlich nahm er die Hand des älteren Mannes und drückte sie fest. Als Razi die Augen wieder aufschlug, glänzten sie. »Er hat uns beide in der Hand, mein Lieber. Nicht wahr?«
Rasch warf Lorcan Wynter einen Seitenblick zu, und auch Razi wandte ihr sein Gesicht zu. Sie schüttelte den Kopf. O nein, dachte sie. Nein. Das kannst du nicht auf mich abwälzen! Ich kann meinen eigenen Weg gehen. Für mich musst du Alberon nicht verraten! Gib nicht mir die Schuld!
»Auch ich wurde heute gezwungen, einen solchen Handel einzugehen.« Obwohl er Wynter anstarrte, schien Razi sie gar nicht richtig zu sehen.
»Euer Freund«, flüsterte Lorcan. »Wie geht es ihm?«
Razis Augen waren jetzt riesengroß und nass. Er legte den Kopf schräg, atmete vernehmlich durch die Nase und biss die Zähne zusammen, bis er sich wieder in der Gewalt hatte. »Christopher ist im Verlies.« Einmal tätschelte er noch Lorcans Hand, dann zog er seine fort. »Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit mein Vater versucht hat, ihn umzubringen, indem er seinen Kopf gegen einen Baum schlug.« Damit stand er auf und sammelte seine Gerätschaften zusammen.
»Jonathon wird ihn nicht töten«, sagte Lorcan. »Nicht, wenn du tust, was …«
Mit unvermittelter Heftigkeit schleuderte Razi eine Phiole
in seine Tasche und hämmerte mit beiden Händen auf den Tisch. »Wenn er ihn noch einmal anfasst! Wenn er auch nur …«
»Sch-sch«, zischte Lorcan.
Razi funkelte ihn wütend an.
»Schschsch«, machte Lorcan wieder, dieses Mal noch gedämpfter, und Razi fügte sich.
»Vater kann kein weiteres Festmahl durchstehen, Razi«, mahnte Wynter leise.
Keiner der beiden Männer sah sie an; vielmehr blickten sie einander in die Augen – von Grün zu Braun -, wohl wissend, was auf dem Spiel stand. Wohl wissend, dass Wynter Recht hatte.
»Wartet einen Augenblick«, sagte Razi. Schnell lief er an Wynter vorbei und drückte die Klinke nieder, als erwartete er, seinen Vater vors Schlüsselloch gekauert vorzufinden. Doch Jonathon saß in der hinteren Ecke des Gemeinschaftsraums. Erwartungsvoll erhob er sich. Razi schloss die Tür hinter sich und ließ Wynter fiebernd vor Neugier zurück.
Sie schielte zu ihrem Vater – sie schämte sich, in seiner Gegenwart zu lauschen, doch zu ihrem Erstaunen ermunterte er sie mit einer schwachen Handbewegung. Eilig lief sie und presste das Ohr an die Tür.
Gerade rief Jonathon aufgebracht: »Wir sind alle müde, Junge!«
»Nein, Vater! Nicht müde ! Verdammt noch mal nicht müde . Warum hörst du mir nicht zu? Der arme Mann ist erschöpft. Er ist vollkommen ausgelaugt. Begreifst du denn nicht? Seine Kraft reicht kaum noch aus, um sein Herz weiterschlagen zu lassen. Er …«
»Aber ich kann das Bankett nicht absagen. Alles ist arrangiert.«
»Was reden sie?«, murmelte Lorcan vom Bett her, und Wynter berichtete flüsternd.
»Ich brauche Lorcan an meiner Seite!« Der König tigerte offenbar auf und ab, seine Stimme klang mal leiser, mal lauter. »Ich brauche ihn in der Öffentlichkeit. Man muss ihn sehen. Die Menschen lieben ihn. Wenn sie davon überzeugt sind, dass er mich unterstützt …«
»Wenn du darauf bestehst, den kranken Mann heute Abend so, wie er jetzt aussieht, in den Bankettsaal zu schicken, dann werden sie überzeugt sein, dass du ihn mit Schlägen zum Gehorsam gezwungen oder ihn gar vergiftet hast. Er ist nicht gesund . Er wird sich selbst Schande bereiten und die Menschen gegen dich aufbringen.«
Wynter gab alles getreulich an ihren Vater weiter, obgleich sie bei den Worten »sich selbst Schande bereiten« ins Stocken geriet und Lorcan unsicher anblickte. Doch der lauschte nur wortlos, den Arm wieder über die Augen gelegt. Was sie von seinem Gesicht erkennen konnte, blieb ausdruckslos.
Jenseits der Tür entstand eine Stille, und Wynter hoffte, dass Razi endlich ein Argument gefunden hatte, das dem König einleuchtete.
»Vater«, fragte Razi nun vorsichtig. »Warum tust du das?« Er sprach so leise, dass er kaum zu hören war. Wynter malte sich aus, dass er argwöhnisch
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