Moorehawke 01 - Schattenpfade
zurück und schloss sie fest in die Arme. »Verzeih«, wisperte er in ihr Haar. »Es tut mir so leid, kleine Schwester. Ich bin im Moment so wütend, ich kann überhaupt nicht mehr klar denken. Aber ich bin nicht wütend auf dich – das weißt du doch?«
Sie rieb über seinen Rücken, versuchte, die eisenharte Anspannung in seinen Schultern zu lindern. »Hast du irgendwelche Nachrichten von Christopher?«, murmelte sie.
Er löste sich von ihr und wich ihrem Blick aus. Wieder zupfte er an seinen Handschuhen. »Keine Nachrichten.«
Sie zögerte, dann legte sie beruhigend ihre Hände auf seine. »Vielleicht könnte ich heute Nacht den Geheimgang nehmen«, erbot sie sich. »Ich könnte nachsehen, ob …«
» Nein! Nein, Wynter. Versprich mir, dass du das nicht tust.« Er umklammerte ihre Hand, Stimme und Gesicht verzerrt vor Furcht und Besorgnis. »Versprich es mir!«
Sie grinste ihn an – ein mattes, verzagtes Grinsen. »Du alte Glucke«, neckte sie ihn. Dann schlug sie ihm auf den Arm, worauf er sich ein gequältes Lächeln abrang.
»Versprich es.« Er schüttelte sie sanft.
»Ich verspreche es.«
»Braves Mädchen. Bitte, verlass eure Gemächer nicht. Und mach dir keine Sorgen um Lorcan. Er wird schon wieder.« Zärtlich küsste er sie auf die Stirn. »Ich bin bald zurück.«
Und damit war er fort, die Tür zum Gang schlug hinter ihm zu. Ein großer Wachtrupp heftete sich ihm geräuschvoll an die Fersen, dicht gefolgt von Stille wie von einem Fluch.
Ein hoher Preis
R azi kehrte an jenem Abend nicht zurück, obwohl Wynter bis weit nach dem ersten Viertel auf ihn wartete. Lorcan schlief friedlich und tief, ohne überhaupt zu bemerken, dass sie treulich an seinem Bett Wache hielt. Schließlich zwangen die unbequeme Stellung und ihre müden Knochen sie hinüber in ihr Bett, wo sie in einen unruhigen Dämmerschlaf fiel.
Gerade, als sich ihr Geist endlich löste und sie in einen echten, erholsamen Schlaf sank, schreckte ihr Vater sie wieder auf. Er hielt sich mühsam im Türrahmen fest und starrte zu ihr hinein, sein Mund bewegte sich geräuschlos; Wynter sah ihn wie durch dichten Nebel.
Es dauerte lange, bis sie ihre Müdigkeit so weit bezwungen hatte, dass Lorcan und der Raum scharfe Konturen annahmen. Es war früher Morgen, unmittelbar vor Sonnenaufgang, und Lorcan sagte: »Liebes? Wynter? Kannst du mich hören?«
Seine Hände umklammerten das Holz so fest, dass es aussah, als würden ihm die Sehnen jeden Augenblick durch die Haut springen. »Wynter. Du musst heute etwas für mich erledigen. Fühlst du dich dazu imstande?«
Trocken und ohne einen Hauch von Belustigung in der Stimme gab sie zurück: »Leg dich wieder ins Bett, du alter
Esel. Dann könnte es sein, dass ich zu dir komme und mir deine Bitte anhöre. Ansonsten brich ruhig dort in der Tür zusammen, ich steige dann einfach über dich hinweg.«
Lorcan bedachte sie mit einem finsteren Blick und tastete sich zurück in seine Kammer. »Du bist genau wie deine Mutter!«, schnarrte er, während er um die Ecke verschwand.
Beunruhigt lauschte sie seinem schwerfälligen Tapsen und atmete auf, als sie ihn ins Bett klettern hörte. »Sie muss eine wahre Heilige gewesen sein«, rief sie dann laut und schlug die Decke zurück, um aufzustehen, sich zu waschen und anzuziehen.
Vor dem Fenster zuckten Schatten über den frischen, rosigen Morgenhimmel. Erneut Raben, aber heute schon viel zahlreicher; Jusef Marcos’ Leichnam musste wohl neben den bisherigen blutigen Überresten aufgespießt worden sein. Angeekelt stöhnte Wynter auf und wandte die Augen ab. Einst hatte es eine Zeit gegeben, als sie vom Gesang der Rotkehlchen und Amseln geweckt worden war. Nun war es das Krächzen und Kreisen der Raben, ihre scharfen Krallen auf dem Dach über ihrem Kopf.
Was war nur mit ihnen allen passiert? Dass der Tod sie vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung grüßte, dass ihnen nichts anderes übrigblieb, als weiterzustrampeln und zu hoffen, er werde sie nicht in seine Klauen bekommen.
Vom Vorabend war nichts Essbares mehr übrig, also hockte sie sich mit einem Kanten Weißbrot und einem Becher Wasser zu Lorcans Füßen auf das Bett. Er hatte sich geweigert, etwas zu trinken, und kuschelte sich jetzt unter seine Decke. Trotz der Wärme bibberte er und beäugte missbilligend, wie sie beharrlich auf dem Brot herumkaute.
»Geh zu Marni«, drängte er, »und lass dir etwas Anständiges zu essen geben.«
Wynter hielt inne und ließ die Hand mit dem Brot in den
Weitere Kostenlose Bücher