Moorehawke 01 - Schattenpfade
rauschte er davon, ohne sich noch einmal umzublicken.
Unter den wachsamen Augen der Soldaten gestattete sich Wynter nicht, ihm länger nachzusehen. Doch innerlich war sie aufgewühlt. Würde er ihr nicht sein Geleit anbieten? Würde er sie nicht an seinem Arm in den Festsaal führen? Sie hatte fest auf Razis Unterstützung gebaut, wenn sie das unbekannte Territorium der königlichen Gemächer betreten, den vom Hofzeremoniell erstickten Alptraum eines Festmahls auf dem königlichen Podest über sich ergehen lassen musste. Doch er zog sich von ihr zurück, und sie stellte fest, dass sie nicht mehr die Kraft aufbrachte, ihm böse zu sein. Müde, enttäuscht und innerlich leer betrat sie ihre Gemächer.
Eigentlich hatte sie unverzüglich nach ihrem Vater sehen
wollen, doch im Vorraum lag eine Nachricht auf dem Tisch. Hoffnung flammte in Wynters Brust auf, als sie Razis Wappen auf dem Siegel entdeckte. Sie ließ ihr Werkzeug fallen und riss den Brief auf. Doch die erwartungsvolle Freude verebbte sofort wieder.
Die Nachricht war in Razis offizieller Handschrift verfasst: makellos gerade, äußerst leserlich, durch und durch unpersönlich. Es war eine Liste mit Anweisungen für die Pflege ihres Vaters; peinlich genaue Angaben, wann und wie viel Medizin er einzunehmen hatte, Empfehlungen für seine Ernährung und strikte Richtlinien für seine Ruhepausen. Wynter las alles durch, sie wusste, was es bedeutete: Razi konnte sich nicht mehr so häufig um Lorcan kümmern, wie er gern würde. Und er tat sein Bestes, um dafür zu sorgen, dass ihr Vater auch in seiner Abwesenheit beständige Pflege erhielt.
Sie flößte Wynter Angst ein, diese ordentliche Liste, denn sie sprach Bände – Razi hatte vor, sich von ihnen zurückzuziehen und künftig Abstand zu wahren. Sie kündigte eine jähe, entschlossene Trennung an. Den Brief in der Hand, spürte Wynter den wild tosenden Strudel in ihrem Inneren. Wieder war sie allein, und dieses Mal würde ihr vielleicht die Kraft fehlen, es durchzustehen. Erneut füllten sich ihre Augen mit Tränen, sie zerknüllte den Brief. Die Versuchung, ihn weit von sich zu schleudern, war beinahe zu groß.
Da löste sich ein dünnes Blatt von dem dicken Bogen Briefpapier und segelte zu Boden. Noch ehe sie es aufgehoben hatte, erfüllte sie der Anblick von Razis schräger, gehetzter, vertrauter Handschrift mit überwältigender Freude und Dankbarkeit. Nun waren die Tränen nicht mehr aufzuhalten: Sie kullerten über ihre Wangen und tropften vom Kinn, und sie wischte sie mit einem ungeduldigen Schniefen fort.
Meine liebe Schwester, verzeih. Es gibt keine Worte, um auszudrücken, wie schrecklich ich mich fühle. Bitte versteh das: Ich werde nicht nachgeben. Du darfst mir nicht länger als Freundin begegnen. Nie wieder werde ich Dir gegenüber Zärtlichkeit zeigen. Versuch nicht, mir Vorwürfe zu machen oder unsere Freundschaft neu zu entfachen, denn es darf nie mehr sein. Aber ich schwöre Dir – und ich bete, dass Du es nie vergisst: Ich liebe Dich, meine kleine Schwester, meine geliebte Wynter. Gib gut auf Dich acht.
Dein Dich ewig verehrender Bruder Razi.
Wieder und wieder las sie den Brief. Lebewohl sagte er. Lebewohl, Lebewohl.
Gewiss hatte er nicht vorgehabt, diese Nachricht zu schreiben. Bestimmt hatte er ursprünglich einen kalten, schroffen Bruch beabsichtigt. Doch so war Razi – letztlich zu einer solchen Grausamkeit nicht fähig. Seine Handschrift war fast unleserlich, verschmiert und voller Tintenflecke, die von der Hast zeugten, mit der er als Linkshänder über das Papier geflogen war. Er musste es in letzter Minute geschrieben haben, weil er es nicht ertrug, sich von ihr zu lösen, ohne seinen innigen Gefühlen ein letztes Mal Ausdruck zu verleihen, ohne ihr zu versichern, wie viel ihre Liebe ihm bedeutete. Jetzt scherte sie sich nicht mehr um die Tränen. Sie ließ sie einfach fließen.
Oh, Razi. Das ist falsch. Ganz falsch. Alles ist so falsch.
Ein eigenartiger Kummer überkam sie, wie sie ihn noch nie zuvor empfunden hatte. Sie gab sich keine Mühe, ihr Weinen zu verbergen, als sie ohne nachzudenken nach nebenan schlich und in der Tür zur Kammer ihres Vaters verharrte.
Lorcan lag im Bett, doch man sah, dass er auf gewesen war, sich gewaschen und gekämmt hatte. Der Nachttopf war geleert und gereinigt worden, also mussten die Mägde gekommen
sein. Wynter fragte sich, ob er wohl im Bett geblieben war, während sie ihre Arbeit verrichteten, doch das war schwer vorstellbar.
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