Moorehawke 01 - Schattenpfade
Wahrscheinlicher war, dass er im Nebenraum gewartet hatte, bis sie fertig waren.
Er bemerkte sie zunächst nicht, und schon das war beunruhigend. Die rechte Hand neben dem Gesicht geballt, lag er auf der Seite; er wirkte gelöst und tief in Gedanken versunken. Sein Blick ruhte auf den Orangenbäumen, er folgte dem Flattern der vielen bunten Vögel, die ihr Heim in den Ästen hatten. Seine Kammer roch nach warmer, sauberer Haut und nach einer Tinktur aus Opium und Orangenblüten. Der Duft war schwer und friedvoll, Wynter hatte das Gefühl, ihn mit ihrer Einsamkeit und ihren selbstsüchtigen Tränen nicht stören zu dürfen.
Bedächtig zog sie sich in ihre Kammer zurück, wusch sich leise Gesicht und Hände und bürstete ihr Haar, bevor sie erneut zu ihm hineinging. Dieses Mal bemerkte er sie, grinste verschlafen und setzte sich im Bett auf. »Meine Kleine!« Sein vertrautes Krächzen war wie Balsam. »Wie ist es dir ergangen?« Er klopfte auf die Bettkante und sank schwerfällig in die Kissen zurück.
Wynter kämpfte erfolgreich gegen den Wunsch an, ihren Kopf an seiner Schulter zu vergraben und sich daran auszuweinen. Stattdessen setzte sie sich zu ihm und versuchte sich an einem Lächeln. »Hallo, Vater. Wie war dein Tag?«
»Ach, Razi kam und ging, Lorcan dies, Lorcan das … Dieser verwünschte Junge … Und ich werde fast wahnsinnig vor Langeweile. Ich brauche Neuigkeiten, Klatsch und Tratsch.« Seine Worte waren so zähflüssig wie Honig, und Wynter warf einen Seitenblick auf eine verräterische braune Glasflasche und einen halbleeren Becher mit Wasser auf dem Nachttisch.
Beiläufig zog sie seine Decke glatt und tätschelte ihm die Hand. »Hat Razi dir eine Opiumtinktur verabreicht?«
Er seufzte, und sein Lächeln wurde träumerisch und selig. »O ja. Er hat behauptet, ich sei nicht gelöst genug.« Glücklich hauchte er: »Ich muss schon sagen, das ist wundervoll. Nichts tut mehr weh.«
Dieses unbeabsichtigte Eingeständnis seiner beständigen Schmerzen versetzte Wynter einen Stich. Sie wandte den Blick ab, damit er das Mitleid darin nicht entdeckte.
»Ich soll heute Abend deinen Platz beim Bankett einnehmen«, berichtete sie, um das Schweigen zu brechen.
»Ach, zum Henker«, stöhnte Lorcan und wischte sich über das Gesicht. »Wie lästig für dich.« Dabei beließ er es. Seine Augenlider wurden schwer.
Na großartig! , dachte Wynter. Danke für dein Mitgefühl! Misstrauisch schielte sie zu der braunen Flasche. Vielleicht sollte ich auch mal einen kleinen Schluck davon kosten. Dann schwebe ich auf einer hübsch flauschigen Wolke durch den Abend.
»Sag mal …«, brummte er mit einem träge amüsierten Lächeln und drehte den Kopf zur Seite, um sie besser sehen zu können. »Was hältst du von Pascal? Und wie waren seine Lehrlinge? Sehr schlimm? Lüsterne Flegel? Musstest du sie zum Gehorsam prügeln?«
Sie gab sich alle Mühe zu kichern, aber er brauchte nur einen Blick auf ihre geröteten Augen und die zuckenden Lippen zu werfen. »Gott im Himmel! Was haben sie denn getan? Haben sie die Bibliothek in Brand gesteckt? Auf die Bücher gepinkelt?«
Jetzt musste sie ehrlich grinsen und kniff ihn in den Arm. Liebevoll nickte er ihr zu und hielt ihre Hand.
»Mein Schätzchen«, sagte er, »wir stehen das schon durch. Ist doch alles nur heiße Luft. Wir müssen einfach den Kopf einziehen und aushalten, bis es vorbei ist.«
»Vater …«
Etwas in ihrer Stimme rüttelte ihn auf. Er wartete geduldig, während sie ihren Mut zusammennahm.
Nein, dachte sie, das sollte ich nicht tun. Nicht jetzt. Das ist nicht richtig! Er ist nicht stark genug . Aber würde er jemals wieder stark genug sein?
»Der König hat Unrecht«, sagte sie ohne weitere Umschweife.
Er sah sie tadelnd an und wollte seine Hand wegziehen, doch sie ließ nicht los und zwang ihn, sie anzusehen. »Er hat Unrecht, Vater. Unrecht . Als du sagtest, dass die Menschen Razi niemals anerkennen würden, hattest du Recht.« Bei dem Gedanken an die Lehrlinge schüttelte sie fassungslos den Kopf. »Was diese Jungen da gesagt haben …« Sie sah ihm in die Augen. »Was Meister Huette da gesagt hat! Es war … es war, als hörte man Shirken zu. Es war genau wie im Norden. Furchtbar!«
Lorcan wusste, wovon sie sprach, sie konnte es in seiner bekümmerten Miene lesen. »Sie suchen nach jemandem, dem sie die Schuld geben können, meine Kleine. Nach einem Ursprung für ihre Nöte. Sie glauben, wenn sie diesen Ursprung nur finden und ihn beseitigen, hat
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