Moorseelen
ich nur Statistin in einem Theaterstück, in dem die Neue meines Vaters die Hauptrolle spielte. Trotzdem musste ich zurück, sonst würde ich noch mehr Ärger kriegen, als ich sowieso schon hatte. »Ich würde ja gern. Aber es geht wirklich nicht«, bedauerte ich. Ich sah die enttäuschten Gesichter und kam mir nun richtig schäbig vor. Ich hatte sie ausgenutzt, bei ihnen gegessen und gefeiert, ohne ihnen etwas zurückzugeben. Eine Diebin, die das Geld nimmt und davonläuft.
»Urs wird dich fahren«, sagte Mia kurz angebunden. Ein herber Stich der Enttäuschung durchfuhr mich. Urs? Wieso nicht Zeno? Wo war er überhaupt? Als ich mich umsah, konnte ich ihn immer noch nicht entdecken.
Urs stand abwartend da und sah mich an. Schweren Herzens nickte ich.
»Tschüss«, sagte ich leise in die Runde. Alle nickten nur schweigend, Mias Miene war undurchdringlich. »Ich komme wieder – wenn ich darf«, versprach ich, aber Aryanas Lächeln besagte, dass sie mir nicht glaubte.
Schweigend fuhren Urs und ich in dem alten Bus über die holprige Straße. Ich hatte ihn gebeten, mich zum Zug nach Cottbus zu bringen. Mit diesem schweigsamen Riesen wollte ich nicht kilometerweit in der engen Fahrerkabine herumkutschieren. Urs war mir irgendwie unheimlich. Er schien immer nur zu beobachten. Auch mich.
»Die Oase hat mir das Leben gerettet«, sagte er auf einmal.
Das kam so unvermittelt, dass ich erst mal gar nichts darauf erwidern konnte und nur perplex zu ihm rübersah. Seine Hände, große grobe Bärenpranken, umklammerten das Lenkrad. Und obwohl sein blasses Vollmondgesicht völlig ruhig war, zitterte seine Stimme, während er fortfuhr.
»In der Schule war ich nur der Loser. Der fette Nerd, auf dem alle rumgehackt haben, sogar die Lehrer. Weil ich nicht so schnell gelernt habe wie die anderen.« Ich nickte, was hätte ich auch sonst tun sollen. »Mein Vater fand mich sowieso scheiße. Der wollte ’nen Sohn, der ein Ass in Sport ist. Meine Mutter wollte, dass ich Abi mache. Und weil ich beides nicht geschafft habe, war ich für sie irgendwann gar nicht mehr vorhanden. Ich war irgendwie unsichtbar, weißte?«
Jetzt nickte ich, weil ich wusste, wie er sich fühlte. »Und wie bist du dann zur Oase gekommen?«, fragte ich. Die Kommune lag immerhin ziemlich abseits und man entdeckte sie bestimmt nicht eben mal auf einem Sonntagsspaziergang. Urs fuhr sich mit dem Handrücken über die Nase, ehe er fast widerwillig rausrückte.
»Zeno hat mich gesehen. Als ich auf der Eisenbahnbrücke stand …«
Es dauerte ein paar Sekunden, ehe ich kapierte. »Du wolltest
springen
?«, fragte ich entgeistert.
Urs nickte.
Plötzlich tat er mir leid. Irgendwo runterzuspringen fand ich die schlimmste Art, sich umzubringen. Sekundenlang im freien Fall darüber nachdenken zu müssen, wie es sich wohl anfühlen würde, gleich mit voller Wucht unten aufzuschlagen? Vielleicht sogar noch das Brechen der eigenen Knochen zu hören, den Schmerz zu fühlen … Mit der Gewissheit, seine Entscheidung nicht mehr rückgängig machen zu können.
Ohne auf eine Reaktion von mir zu warten, fuhr Urs fort: »Zeno hat mich überredet, vom Geländer zu steigen. Hat mich mitgenommen und gesagt, da wo er wohnt, würde mich keiner auslachen. Ich habe ihm erst nicht geglaubt, aber dann …« Er verstummte. Ich nickte zum dritten Mal. Die Bewohner der Oase mochten eigenwillig sein, vielleicht ein bisschen durchgeknallt, aber sie waren nett. Tatsächlich vermisste ich sie schon ein bisschen.
»Und seitdem wohnst du in der Kommune«, stellte ich fest. »Zahlt ihr eigentlich Miete?«
Urs sah mich an, als hätte ich ihn gefragt, ob er abends in einem Club Poledancing machen würde. »Wir arbeiten. Jeder tut das, was er gut kann. Alles wird geteilt. Einer für alle, alle für einen«, antwortete er mit blecherner Stimme. Ich wollte ihn noch fragen, ob das wirklich immer funktionierte, doch da bremste Urs bereits vor einem weißen Betonklotz, der mit den üblichen Fastfoodsparkassedrogeriemarkt-Schildern gepflastert war. »Wir sind da. Ciao, Feline«, sagte er und schüttelte mir förmlich die Hand zum Abschied. Das war deutlich. Fast hätte ich ihm noch Trinkgeld gegeben. Ich stieg aus und schlurfte zum Gleis Nummer vier. Laut Anzeigetafel kam der RE nach Berlin in fünf Minuten, doch ich hatte das Gefühl, der Zug wäre für mich bereits abgefahren. Ich hatte Zeno nicht mehr gesehen. Und würde es vielleicht auch nie mehr. Ich versuchte, ihn abzuhaken, aber ich kriegte ihn
Weitere Kostenlose Bücher