Moorseelen
nicht aus meinem Kopf. Er war so anders als die anderen Jungen, mit denen ich bisher zu tun hatte. Er hatte Humor, aber gleichzeitig besaß er eine Ernsthaftigkeit, die mich faszinierte. Zeno schien sich wirklich mit dem Sinn des Lebens zu beschäftigen, er wich den Fragen nicht aus, sondern diskutierte sie. Unwillig spürte ich, dass mich das beeindruckte – und anzog. Dabei wäre es besser, ihn mir aus dem Kopf zu schlagen. Der Spreewald war zu weit weg, um eine Chance zu haben, Zeno näher kennenzulernen, redete ich mir selbst gut zu.
In dem muffigen Abteil auf einem durchgesessenen Polster blickte ich auf die vorbeirasende Landschaft. Seltsamerweise wurde mit jedem Kilometer der Eindruck stärker, mich immer weiter vom wahren Leben zu entfernen. In Berlin hatte die S-Bahn mal wieder eine Panne und so landete ich erst am späten Nachmittag auf dem fernen Planeten namens Zuhause. Ich stocherte gerade mit dem Schlüssel im Schlüsselloch, als die Tür von innen aufgerissen wurde.
»Wo kommst du jetzt her?«, fragte mein Vater. Seine Stimme klang gefährlich ruhig.
»Ich war bei Freunden«, gab ich genauso cool zurück. Und fuhr fort, ehe er zu einer Standpauke ansetzen konnte: »Ja, ich weiß, ich habe Hausarrest. Aber die Übernachtung hat sich spontan ergeben und ich hatte mein Handy hier vergessen.«
»Das ist, verdammt noch mal, noch lange kein Grund, einfach zu verschwinden und die ganze Nacht wegzubleiben. Spinnst du eigentlich? Kannst du dir vorstellen, was ich für Ängste ausgestanden habe? Ganz zu schweigen davon, dass du mein Verbot wiederholt ignoriert hast«, polterte mein Vater.
Hinter ihm tauchte das Mausgesicht der Neuen auf. Aufgetakelt wie eine chinesische Dschunke segelte sie auf mich zu. »Wir haben uns echt krasse Sorgen gemacht«, piepste sie mit ihrer nervtötenden Stimme. Ich bedachte sie mit einem eisigen Blick: angefangen bei der weißblond gesträhnten Mähne über das enge Shirt mit dem albernen Glitzeraufdruck bis hin zur Röhrenjeans, deren Beinsaum in teuren Bikerboots verschwand. Sie wirkte nicht fünfzehn Jahre
jünger
als mein Vater, sondern wie eine Fünfzehnjährige. Prinzessin Lillifee in der Pubertät, rosa Lippenstift inklusive. Oberpeinlich.
»Klar, du hast dir ›krasse‹ Sorgen gemacht. Und die Erde ist ’ne Scheibe«, murmelte ich.
Mein Vater starrte mich aus schmalen Augen an. »Was hast du gesagt?«, fragte er drohend.
»Ich muss mir die Zähne putzen«, nuschelte ich, drückte mich an ihm vorbei und verschwand im Badezimmer. Dort stand eine rosaweiße Pappschachtel auf dem Waschbeckenrand.
Schwangerschaftstest
prangte in blauen Buchstaben darauf. Einen Moment lang glaubte ich tatsächlich, mein Vater hätte den für mich gekauft. Weil er dachte, sein wohlbehütetes Töchterchen wäre letzte Nacht auf Abwege geraten. Beinahe hätte ich gelacht. Bis ich sah, dass die Packung offen war. Und die Folie darin aufgerissen und leer – das Teststäbchen fehlte. Ich stolperte aus dem Badezimmer. Im Flur stand mein Vater, bereit seine Strafpredigt fortzusetzen, sobald er meiner ansichtig wurde. Doch als ich ihm die Schachtel unter die Nase hielt, blieb ihm das Wort im Hals stecken. »Der war ja offensichtlich nicht für mich gedacht«, sagte ich.
Die Neue kicherte nervös.
»Wir wollten es dir eigentlich zu einem günstigeren Zeitpunkt sagen …«, fing mein Vater an, doch ich fiel ihm ins Wort.
»Ach ja, und wann? Wenn bei ihr die Wehen einsetzen, oder was?«
Er machte eine beschwichtigende Geste, während er offenbar überlegte, was er sagen sollte.
»Du bist natürlich erst mal geschockt, logo, versteh ich«, preschte die Neue vor, ehe er zu Wort kam. »Aber du wirst sehen, das wird supi. Wir werden eine richtig coole Patchworkfamilie«, zwitscherte sie fröhlich, verstummte aber, als sie meinen Gesichtsausdruck sah. Wahrscheinlich ähnelte ich in dem Moment dem Typen mit der Maske aus »Scream«. Und ehrlich gesagt fühlte ich mich auch so. Heiße Wut kochte in mir hoch und lief in meinem Inneren über.
»Du«, fauchte ich, und sie wich unwillkürlich einen Schritt zurück, »wirst nie zu meiner Familie gehören. Und das ändert sich auch nicht, bloß weil mein Vater dich geschwängert hat. Wahrscheinlich hast du’s sogar darauf angelegt, stimmt’s?«
Ihr und meinem Vater klappte synchron der Mund auf, sodass sie aussahen wie bei einer einstudierten Comedy-nummer. Nur war mir nicht zum Lachen zumute. »Das ist echt das Letzte«, schleuderte ich meinem Vater
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