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Moorseelen

Moorseelen

Titel: Moorseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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allerwenigsten dem Leben. Es hatte sich von einer Sekunde auf die nächste geändert und alles was mir vertraut war auf einen Schlag zunichtegemacht.
    Zenos warme Hand legte sich auf meine. »Wir sind alle manchmal wütend. Auf uns, auf das Schicksal … Und dann schlagen wir um uns. Nur trifft es meistens die Falschen«, sagte er.
    Überrascht sah ich hoch. Konnte er hellsehen? Zeno lächelte.
    »Ich bin kein Gedankenleser, falls du das befürchtest. Aber ich weiß aus eigener Erfahrung, wie du dich fühlst. Mir ging es früher oft so. Und die anderen hier können auch ein Lied davon singen.«
    Ich sah mich um und bemerkte, dass die Mitglieder der Oase aufmerksam zugehört hatten. Nun nickten alle, einige grinsten.
    »Die Welt, in der wir leben, macht uns oft verrückt. Einerseits wird dir eingeredet, du kannst dir alles kaufen, was du dir wünschst. Aber in Wirklichkeit bist du in der Gesellschaft nur ein kleines Rädchen in einem gnadenlosen Getriebe. Wer es nicht schafft, fällt aus dem System. Du wirst als Loser abgestempelt, bist lästig, ein Schmarotzer. Deine Wünsche und Träume interessieren keinen.« Alle nickten erneut und ich tat es ihnen gleich. Als ich mein Auslandsjahr in den USA abgebrochen hatte, war die Enttäuschung meines Vaters für mich geradezu fühlbar gewesen. Und die Blicke der Mitschüler in meiner neuen Klasse hatten besagt, für was für ein Weichei sie mich hielten, eine Versagerin, die heulend zurück nach Hause geflüchtet war.
    »Kein Wunder, dass wir manchmal denken, wir müssten uns wehren, damit uns keiner verletzt«, unterbrach Zeno meine Grübelei. »Aber hier ist es anders. In der Oase darf jeder so sein, wie er ist«, beschwor er. Unwillkürlich huschte mein Blick zu Urs. Er sah Zeno unverwandt an und sein Gesicht strahlte, als wäre ihm der Heilige Geist persönlich erschienen. Wahrscheinlich hatte Urs von allen Bewohnern die beschissenste Vorgeschichte, und die Oase war für ihn das Paradies. Vielleicht war sie das ja auch, trotz des ungewürzten Essens und den Gemeinschaftszimmern. Hier hielten alle zusammen und bemühten sich, die Welt wenigstens ein bisschen besser zu machen.
    Plötzlich schämte ich mich doppelt, dass ich Zeno angemeckert hatte. »Sorry«, murmelte ich in meine Eintopfschüssel.
    Statt einer Antwort drückte Zeno nur meine Hand. »Du fährst morgen nach Berlin«, sagte er. Ich zuckte zusammen. Wollte er mich etwa wegschicken? Hatte ich den Bogen überspannt? »Nun schau nicht wie das Lamm vor der Schlachtbank«, lachte Zeno. »Aryana und Urs kommen mit. Ihr verkauft etwas von unseren Erzeugnissen.« Ich war selbst überrascht über meine Erleichterung. Ich durfte also in der Oase bleiben. »Du kümmerst dich um den Schmuck«, fügte Zeno an.
    Erst in diesem Moment wurde mir klar, was mich die ganze Zeit irritiert hatte. Ähnlich einem Puzzle, bei dem man erst nach mehrmaligem Ansehen ein fehlendes Teil bemerkt, war mir bisher nicht aufgefallen, dass die Bewohner der Oase nicht vollzählig waren: Mia war immer noch nicht aufgetaucht. Als ich Zeno nach ihr fragte, huschte ein Schatten über sein Gesicht und sein Bernsteinblick schien sich einen Augenblick lang zu verdunkeln. »Es ist Mias Entscheidung, was sie tut«, bügelte er meine Frage ab. »Keiner muss hier Rechenschaft ablegen, jeder darf kommen … aber auch gehen.«
    Ich nickte und schwieg. Ein Teil von mir war ganz tief drinnen sogar erleichtert. Offenbar hatte sie sich nach Zenos Zurechtweisung entschlossen, die Oase zu verlassen. Ich versuchte, mir einzureden, ihr zickiges Verhalten mir gegenüber und ihre fiesen Sprüche hätten mich sowieso nur genervt. In Wirklichkeit hatte ich aber das Gefühl, meine ärgste Rivalin um Zenos Gunst los zu sein.
    Auf dem Weg zum Schlafsaal hatte ich auf einmal Lust, noch ein bisschen die Sterne anzuschauen. Ich blieb stehen und drehte mich um. Ein schwarzer klobiger Schatten stand hinter mir. Erschrocken machte ich einen Satz, ehe ich erkannte, um wen es sich handelte. »Urs!«, rief ich. »Schleichst du mir etwa hinterher?« Dabei versuchte ich, einen scherzhaften Tonfall anzuschlagen, obwohl meine Stimme vor Schreck etwas zitterte.
    »Nein, ich … wollte … ich war auf dem Weg zu meinem Schlafsaal …«, stotterte der dicke Junge.
    »Na dann – gute Nacht«, sagte ich. Urs nickte. Demonstrativ blieb ich stehen, die Hände in die Hüften gestützt und wartete, bis er verschwunden war. Trotzdem wollte das komische Gefühl nicht verschwinden. War Urs

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