Moorseelen
das Blut in die Wangen. Obwohl ich mir einredete, das Fasten wäre einzig und allein meine Entscheidung, hatte Mia doch den Nagel auf den Kopf getroffen. Aber das würde ich ihr unter keinen Umständen auf die Nase binden und wenn ich niemals mehr etwas zu Essen bekäme. Trotzdem ärgerte mich ihre Hellsichtigkeit und heftiger als beabsichtigt fuhr ich sie an: »Wer sich hier dauernd an Zeno ranzuwerfen versucht, bist ja wohl du. Und nur weil er nett zu mir ist, drehst du am Rad. Ich hab mitgekriegt, was für ’n Aufstand du neulich gemacht hast«, rutschte es mir raus.
Mias blaue Puppenaugen verengten sich zu Schlitzen. Nichts erinnerte mehr an den sanften blonden Weihnachtsengel. Mit ihrem wutverzerrten Gesicht und den wilden Locken glich sie eher der Medusa, einem weiblichen Ungeheuer aus der griechischen Sage mit Schlangenhaaren. »Du spionierst mir also hinterher, ja?«, fauchte sie.
»Quatsch«, wehrte ich mich. Tatsächlich hatte ich den kurzen, aber heftigen Wortwechsel ja nur zufällig mitgekriegt.
»Oder wolltest du Zeno stalken?«, fuhr Mia höhnisch fort. »Würde zu dir passen. Aber du hast keine Ahnung, weil …«
Ehe sie mir noch mehr an den Kopf werfen konnte, unterbrach sie eine dunkle Stimme. »Das reicht, Mia! Wir reden. Jetzt.« Zeno war lautlos wie ein Schatten aufgetaucht.
Mia verstummte schlagartig. Der Zorn schien aus ihr zu weichen, wie Luft aus einem geplatzten Ballon. Ähnlich zusammengeschrumpft sah sie auch aus, stellte ich leicht schadenfroh fest. »Zeno, ich …«, fing sie an, doch er brachte sie mit einer abrupten Handbewegung zum Schweigen.
»Komm mit«, sagte er und in seiner Stimme traf Eisen auf Stein.
Mit hoch erhobenem Kopf, aber die Zähne so fest zusammengepresst, dass ihre Kieferknochen hervortraten, folgte Mia ihm. Kurz bevor sie um die Ecke bogen, drehte sie sich noch einmal sekundenkurz zu mir um. Ich hielt ihrem Blick stand, obwohl ich erschauderte. In ihren Augen lag noch etwas anderes als Ärger: Hass.
Als wir spät abends in unsere Stockbetten krochen, war Mia noch nicht wieder aufgetaucht. Wahrscheinlich schmollte sie. Oder Zeno hatte von ihr verlangt, sich bei mir zu entschuldigen, und sie wollte sich drücken. Meinetwegen. Ich war nicht scharf drauf, sie heute noch mal zu sehen. Vielleicht lag es am Fasten, dass ich wie bewusstlos in den Schlaf sank, sobald mein Kopf das Kissen berührt hatte.
Die Hand, die mich am Morgen wachrüttelte, gehörte nicht Mia, sondern Kali. Mias Bett war unberührt. »Sie hat wohl bei Deva und Jaron gepennt«, vermutete Kali, als sie meinen fragenden Blick sah. »Deva hat oft eine beruhigende Wirkung, wenn einer von uns mal ausflippt«, fügte sie grinsend hinzu.
Ich dachte an die dunkle, sanfte Stimme und die freundlichen Augen der gelähmten Frau und nickte. Vielleicht wirkte ja auch der kleine Jaron mit seinem fröhlichen Lachen positiv auf Mia. Nachdem ich zwar wenig, aber immerhin tief geschlafen hatte und auch das Hungergefühl verschwunden war, fühlte ich mich ihr gegenüber sogar beinahe versöhnlich gestimmt. Um weiter durchzuhalten, ging ich nicht zum Frühstück, sondern schnurstracks in den Gemüsegarten, wo ich anfing, die Beete zu gießen. Dort stöberte Zeno mich auf.
»Morgen, Jeanne d’Arc«, begrüßte er mich gut gelaunt.
Ich schirmte mit der Hand meine Augen gegen die helle Morgensonne ab und tat, als würde ich lauschen. »Ich höre Stimmen!«, parodierte ich die Legende um die französische Heilige. »Sie sagen mir, dass der Mann, der vor mir steht, nach Abkühlung lechzt«, hauchte ich mit einer gespielt geisterhaften Stimme und hob die Gießkanne.
»Untersteh dich«, rief Zeno und griff danach. Nach einer kurzen Rangelei hatten wir beide nasse Füße. Atemlos standen wir voreinander, ein kurzer Moment der Verlegenheit. Dann reichte mir Zeno die Kanne, die er zuvor erobert hatte, zurück. »Du fährst übrigens nachher mit Kali, Urs und Lukas raus aufs Feld – Kartoffeln sammeln«, sagte er beiläufig und wandte sich zum Gehen.
Ich starrte ihn an. Die ausgelassene Stimmung von eben war wie weggeblasen. »Aha«, war alles, was ich herausbrachte. Insgeheim dachte ich verbittert: Schön, dass es jeden Tag eine neue Überraschung gibt. Heute war also Feldarbeit dran. Und Zeno bestimmte, wann ich was machte. Er schien meine Stimmung zu spüren, denn er drehte sich noch einmal um.
»Wenigstens musst du heute keinen Küchendienst machen«, grinste er, ehe er mich stehen ließ, mit einem schalen
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