Moorseelen
ganz und gar auf eine bessere Welt zu fokussieren«, wie Zeno es ausdrückte.
Alle Viertelstunde schlug er leise einen Gong und gab uns sogenannte Affirmationen für die nächsten fünfzehn Minuten Meditation mit: »Immer, wenn eine Lebenskrise auftaucht, ist die Gelegenheit für wirkliches Wachstum gegeben. Die Zeit davor ist die Vorbereitung. Lernt jetzt, euren Geist zu leeren. Sagt euch immer wieder: Was vergangen ist, ist vorbei.« Also versuchte ich, alle Gedanken an meinen Vater, an die Schule, ja, an mein früheres Leben auszuschalten. Sogar an meine Mutter zu denken, verbot ich mir. Ich zwang mich dazu, meine Traurigkeit nicht zu fühlen. Der körperliche Schmerz vom langen Sitzen in meinen Knien und im Rücken half mir dabei. Es war einfacher, sich voll und ganz auf die minimalen Bewegungen zu konzentrieren, um die verkrampften Muskeln zu lockern, als an meinen Vater zu denken, der sich bestimmt Sorgen um mich machte. Daher redete ich mir ein, dass es den Papa von früher für mich längst nicht mehr gab. Der, der mich als kleines Mädchen drei, vier Mal in die Luft geworfen und wieder aufgefangen hatte, bis ich vor Begeisterung geschrien hatte. Der geduldig mit mir Lesen geübt hatte, sodass ich danach selbst die schwierigen Wörter im Buch für größere Kinder entziffern konnte und stolz zu meiner Mutter gelaufen war, um ihr vorzulesen. Es gab nur noch den Vater, für den ich eine »Last« war, eine Egoistin, weil ich das schöne neue Leben mitsamt einer Ersatzfrau und einem Ersatzkind nur störte. Ich wollte keinen Gedanken mehr an ihn verschwenden, sondern stark und frei werden und es den Bewohnern der Oase gleichtun.
Doch das war nicht so leicht. Immer wieder versuchte sich sein verzweifelter Blick in meine Gedanken zu schleichen und auch das Gesicht meiner Mutter tauchte trotz meiner Bemühungen, mich nicht an sie zu erinnern, immer wieder vor meinem inneren Auge auf. Ob sie wohl verstanden hätte, warum ich hier war? Fast war ich dankbar für den Krampf in meiner Wade, lenkte er mich doch von den Bildern ab, die so hartnäckig in meinem Kopf herumgeistern wollten.
Nachdem der Gong das Ende der Meditationsstunde angekündigt hatte, ging Zeno noch durch die Reihen. Mit einigen redete er leise ein paar Sätze, anderen legte er nur schweigend kurz die Hände auf die Schultern. Ich bildete mir jedes Mal ein, dass er bei mir eine Sekunde länger ausharrte als bei den anderen. Doch wir sprachen an diesen Abenden kein Wort miteinander. Weit nach Mitternacht taumelte ich mit steifen Beinen ins Bett und stand vier oder fünf Stunden später wieder auf und arbeitete bis zur Erschöpfung. So wie alle in der Oase. Die Stimme in meinem Inneren, die immer wieder kritische Fragen gestellt hatte, war verstummt. Wenn keiner von den anderen Bewohnern an unserem Lebensstil zweifelte – war dann nicht
ich
im Unrecht, wenn ich es tat? Also passte ich mich an. Sogar an das karge Essen hatte ich mich gewöhnt. Nur der Schlafmangel setzte mir zu. Aber das hätte ich nie zugegeben, schließlich beklagte sich keiner darüber. Ich wollte kein Schwächling sein. Also gab ich mir noch mehr Mühe, besser zu sein als alle anderen. Darüber nachzudenken, ob mir mein neues Leben in der Kommune wirklich gefiel, dazu war ich zu k.o. Außerdem war ich nur von Menschen umgeben, denen es in der Oase gut ging und die hier glücklich waren. Und das, was wir taten, war schließlich sinnvoll.
»Wir versorgen uns selbst und sind auf diese Weise unabhängig von den großen Konzernen, die nur an Profit denken. Kaum jemand ist heute noch autark. Alle sind abhängig von Geld, Macht und Status. Wir nicht«, bläute uns Zeno während der Meditationen ein. Und wir nickten und waren uns einig, es besser zu machen, als die anderen Menschen da draußen, die blind und taub ihr Leben vergeudeten und nur für das teure Smartphone und die große Wohnung lebten. Keiner stellte Zenos Ansicht infrage, auch ich nicht. Warum sollte ich? Wenn jeder so dachte wie Zeno – was konnte dann falsch sein? Ich war zur Muster-Oasianerin geworden.
Noch zwei Mal holte Zeno mich zu einer Session. Und beim letzten Mal blieb ich stark. Egal, was die Stimme meines Vaters mir einreden wollte, dass sie mir ins Ohr zischte, welche Belastung ich für ihn sei – ich saß ruhig da und ließ all die Sätze an mir vorbeifließen. Sie waren nichts weiter als zusammengesetzte Worte, Blätter, die auf dem Wasser vorbeitrieben und bereits hinter der nächsten Biegung des Flusses
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