Moorseelen
Kurz streifte mich ein Anflug von schlechtem Gewissen. Doch dann wurden seine Lippen schmal.
»Verstehe«, sagte er knapp. Obwohl mich ein kleines Schuldgefühl zwickte, sah ich erleichtert, dass er sich endlich abwandte. Allerdings konnte er es sich nicht verkneifen, mir noch über die Schulter eins mitzugeben. »Weißt du, ich dachte immer, du bist ziemlich unglücklich. Dabei bist du einfach nur total arrogant«, sagte er, ehe er sich endgültig davonmachte.
Ich atmete auf. Doch ich hatte keine Ruhe mehr. Zu groß war die Befürchtung, Nick würde schnurstracks zu mir nach Haus laufen und mein Vater könnte in Kürze hier auftauchen, mich am Arm packen und zwingen, mit ihm nach Hause zu kommen, wo seine Neue samt Piepsstimme und Embryo im Bauch wartete.
Hastig raffte ich die Schmuckstücke zusammen und verstaute sie notdürftig in dem Karton, der zum Transport diente. Dann rollte ich die Decke zusammen und ging die paar Schritte zu den anderen Oasianern.
»Hört mal, ich hatte gerade Ärger mit einem aufdringlichen Typen«, erklärte ich hastig. »Ist vielleicht besser, wenn ich im Bus auf euch warte!«
Lukas sprang sofort auf. »Brauchst du Hilfe, sollen wir uns darum kümmern?«, fragte er.
»Nee, der ist weg. Aber ich will keinen Stress, falls er wiederkommt«, redete ich mich raus.
»Wir machen in einer halben Stunde Schluss«, bestimmte Urs. »Du kannst im Bus bleiben«, setzte er gnädig hinzu.
Schweigend drehte ich mich um und verstaute nach einem kurzen Fußmarsch zum Parkplatz den Schmuck und mich im Wagen.
Anschließend hockte ich mich auf den Beifahrersitz und hoffte, die anderen würden bald kommen. Ständig kreisten meine Gedanken um Nick. Dass er mich gesehen hatte, ließ mein Herz unruhig pochen. Um mich abzulenken, zählte ich das Geld, das ich heute verdient hatte: Es waren fast 400 Euro, die in der Blechschachtel lagen. Eine Welle von Stolz schwappte in meinem Inneren hoch und mein Herz bekam einen Atemzug lang Flügel. Dann aber dachte ich daran, was ich den Leuten alles erzählt hatte, damit sie etwas kauften. Unvermittelt schoss mir das Bild von abgemagerten Hunden, wie ich sie im Sizilienurlaub mit meinen Eltern oft gesehen hatte, durch den Kopf. Diese ausgemergelten Tiere, bei denen man jede Rippe sah und deren verlaustes Fell nur aus Schrunden zu bestehen schien, liefen den Touristen mit einem flehenden, hungrigen Blick hinterher. Egal, ob man sie anschrie oder sogar einen Stein nach ihnen warf – sie blieben einem auf den Fersen. Die meisten Touristen gaben irgendwann nach und warfen mit angeekelter Miene ein angebissenes Brot oder ein Stück ihres Gebäcks auf den Boden. Die Hunde stürzten sich darauf, denn dieser Bissen war alles gewesen, was sie gewollt hatten. Erbärmlich. Aber hatte ich es nicht genauso gemacht? War ich den wohlhabenden Berlinern nicht auch hinterhergelaufen, bis ich bekommen hatte, was ich wollte? Ich spürte eine unangenehme Hitze im Gesicht. Sie kam jedoch nicht von der Sonne, die inzwischen nicht mehr weißgelb und stechend war, sondern nur noch in einem sanften Aprikosenton vom schleierwolkenverhangenen Himmel leuchtete. Es war die Scham über mein Verhalten, die meine Wangen färbte.
Mit aller Macht schubste ich meine Gefühle weg und begann ein Mantra vor mich hinzusingen. Zeno hatte es uns beigebracht, damit wir unseren Geist leeren konnten. Die einfachen Silben sorgten tatsächlich dafür, dass in meinem Kopf kein Platz mehr für unerwünschte Bilder oder Gedanken war.
Nicht lange darauf tauchte Urs mit den zwei anderen im Schlepptau auf. Schweigend fuhren wir zurück in die Oase.
Und nachdem ich Zeno die Blechschachtel mit den 400 Euro überreicht und er mich kurz in den Arm genommen hatte, wobei er flüsterte: »Du bist der Hammer, Feline«, vergaß ich meine Schuldgefühle wegen meiner Lügen, vergaß, wie schäbig ich mich gefühlt hatte, und sogar, dass Nick wie ein lebendes Mahnmal in meinem neuen Leben aufgetaucht war. Auch an Mia wollte ich keine Gedankensekunde mehr verschwenden. Jetzt war
ich
für den Schmuck zuständig und mit meinem Verkaufserfolg schlagartig in Zenos Achtung gestiegen. Ich horchte dem Echo meines Herzens nach, das bei dem Gedanken an seine Umarmung vorhin schneller schlug. In diesem Augenblick wünschte ich mir, Mia würde nie mehr zurückkommen und mir meinen Platz in der Oase und bei Zeno streitig machen. Ich konnte ja nicht ahnen, auf welch schreckliche Art und Weise mein Wunsch in Erfüllung gehen
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