Moorseelen
Befreiung zu schreien. Erst jetzt merkte ich, wie viel Wut sich in meinem Inneren angestaut hatte. Endlich brach der Damm. Mir war egal, dass mein Vater in Wirklichkeit gar nicht im Raum war. In einem gewaltigen Schwall sprudelte alles aus mir heraus, was ich ihm längst hatte sagen wollen. »Nachdem Mama tot war, hast du dir sofort eine neue Frau ins Haus geholt, sie geschwängert und jetzt hast du dich nicht mal getraut, es mir zu sagen. Du kotzt mich an! Du bist kein Vater! Du bist ein Loser! Ich hasse dich! Dich und deine blöde Neue … Ich will euch nie mehr sehen! Ab jetzt schaffe ich es alleine! Für mich bist du genauso tot wie Mama …!« Jetzt weinte ich richtig. Da spürte ich zwei kräftige Arme, die mich sanft und zärtlich umschlangen.
Eine tiefe, beruhigende Stimme – Zenos Stimme, nicht die meines Vaters – murmelte: »Alles ist gut, Feline. Du bist in der Oase und wir lassen dich nicht fallen.«
Eine andere Stimme, ebenso warm, aber heller, ergänzte: »Hier wirst du geliebt. Von allen und ohne Einschränkung.« Deva. Ich hatte sie nicht hereinrollen hören, doch nun spürte ich ihre Hand, die mir wie vorhin durchs Haar strich. Ich warf mich in Zenos Umarmung: eine Schiffbrüchige, die das rettende Ufer in letzter Minute erreicht hatte.
»Ihr schickt mich also nicht weg?«, fragte ich und spürte, die Wange an Zenos Schulter geschmiegt, dass er den Kopf schüttelte.
An diesem Abend redete ich noch lange mit ihm und Deva. Ich erzählte ihnen alles, was in den letzten Monaten in meinem Leben schiefgelaufen war. Seit Langem hörte mir wieder jemand zu. Ich fühlte mich verstanden und zu Hause.
»Versuche, nicht nur den Verlust zu sehen«, sagte mir Deva zum Schluss. »Der Tod deiner Mutter birgt auch eine Chance für dich. Nun bist du frei. Du musst dich niemandem mehr verpflichtet fühlen, keine Erwartungen mehr erfüllen. Wenn du es schaffst, die Vergangenheit und die Trauer hinter dir zu lassen, stehen dir alle Möglichkeiten offen. Nutze es! Öffne dich für Neues – jetzt!«
Zuerst wehrte ich mich gegen den Gedanken, meine Mutter einfach zu vergessen. Doch Zeno erklärte mir, ich müsse loslassen, um geheilt zu werden. Meine Mutter war fort und ich hatte, so sagte er, die Wahl, in der Trauer zu verharren oder mein eigenes Leben in die Hand zu nehmen. Und da entschloss ich mich, fortan keinen Gedanken an meine Vergangenheit mehr zu verschwenden. Hier und in dieser Minute sollte mein neues Leben beginnen. In Freiheit. In der Oase. Danach fühlte ich mich wie eine Schlange, die sich gehäutet und ihre alte, viel zu enge Haut endlich abgeworfen hat.
»Ich entschuldige mich bei Urs. Und bei Aryana, weil ich sie zum Weinen gebracht habe«, sagte ich am Schluss und blickte in Zenos schönes, scharf geschnittenes Gesicht mit den vollen Lippen, die sich jetzt zu einem Lächeln verzogen. Dieses Lächeln hatte ich vor Augen, als ich spät am Abend Urs und Aryana die Hand entgegenstreckte. Aryana ignorierte sie und fiel mir stattdessen um den Hals. Urs schüttelte sie, aber obwohl er meine Entschuldigung mit einem Nicken annahm, konnte er mir nicht in die Augen sehen. Nichts anderes hatte ich von ihm erwartet.
Völlig erledigt und wie tot fiel ich spät nachts ins Bett. Am nächsten Morgen wachte ich von alleine auf, als die Sonne gerade ihren ersten schüchternen Strahl durch das Fenster des Schlafsaals schickte. Ich lief ins Bad, machte Katzenwäsche und stand als Erste in der Küche, um Kali, die Frühdienst hatte, beim Tischdecken zu helfen. Der fade Porridge schmeckte mir zum ersten Mal richtig gut. Und als ich später Seite an Seite mit Lukas einen Berg Gemüse schnippelte, der nicht kleiner zu werden schien, beklagte ich mich nicht, sondern war froh, etwas Sinnvolles zu tun zu haben. Und Lukas’ gute Laune war ansteckend: Ich freute mich sogar auf den Eintopf am Abend.
In den nächsten Tagen passte ich mich der Gemeinschaft an und wurde zu dem fehlenden Puzzlestück, das sich in das große Gesamtbild einfügte. Ich arbeitete von Sonnenaufgang an und meditierte an drei Abenden hintereinander bis spät in die Nacht mit Zeno und den anderen.
»Ihr müsst transzendieren, über eure Grenzen hinausgehen und Beschränkungen überwinden«, beschwor Zeno uns, als wir alle kerzengerade auf dem harten Boden des Gemeinschaftshauses saßen. Eine volle Stunde sollten wir mit geschlossenen Augen alle Gedanken ziehen lassen, die uns »daran hindern, die Gemeinschaft hier in der Oase anzunehmen und uns
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