Moorseelen
verschwunden waren. All die geflüsterten Gemeinheiten vermochten mich nicht mehr zu treffen. Ich hatte es geschafft. Ich war genauso stark und frei wie Kali, Lukas und die anderen – ein vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft. Das sagten mir Zenos Umarmung und sein anerkennendes Lächeln am Ende der Sitzung.
Und ich war stolz. Ich wollte beweisen, dass ich mich für nichts Besseres hielt. Ich wollte dazugehören. Ich wollte … Zeno. An Mia dachte ich kaum und wenn, kam es mir vor, als hätte sie schon vor langer Zeit die Oase verlassen.
Kapitel 9
»Aber die Sachen sind selbst gemacht. So was findet man in keinem Laden«, sagte ich und hielt eine von Mias fantasievoll aufgefädelten Halsketten hoch. Ich war verzweifelt. Obwohl halb Berlin am Spreeufer unterwegs zu sein schien, hatte ich bisher noch kein einziges Schmuckstück verkauft. Und auch die teuer gekleidete Mittfünfzigerin, die stehen geblieben war, weil sie etwas für ihre beiden Enkelinnen suchte, verlor offenbar das Interesse, denn sie wandte sich zum Gehen. Ich hätte am liebsten losgeheult. Lag es an mir, dass mir keiner etwas abkaufen wollte und ich nicht einmal ein paar Euro für die Oase verdienen konnte? Bei der Vorstellung, heute Abend vor Zeno treten und zugeben zu müssen, komplett versagt zu haben, krümmte ich mich schon jetzt vor Scham. Die Frau durfte nicht gehen, nicht, bevor sie mir nicht wenigstens ein Armband abgekauft hatte.
»Der Erlös für den Schmuck ist für einen guten Zweck«, hörte ich mich auf einmal sagen. Die Dame, die sich schon einen Schritt von meiner bunten Decke entfernt hatte, auf der die Schmuckstücke wie kleine, exotische Süßigkeiten lagen, hielt inne und drehte sich zu mir um. »Sie helfen damit Jugendlichen, die misshandelt und vernachlässigt wurden, wieder ein normales Leben zu führen«, plapperte ich hastig drauflos.
Es stimmte ja auch irgendwie. Vielen aus der Oase, darunter Urs, war es ziemlich dreckig gegangen, ehe sie bei Zeno und Deva ein neues Zuhause gefunden hatten. Die Frau in ihrem maßgeschneiderten Kostüm, das sicher ein Hundertfaches von dem gekostet hatte, was wir für den Schmuck verlangten, kam zögernd zurück.
»Stimmt das auch wirklich?«, vergewisserte sie sich. Ich blickte ihr freimütig ins Gesicht.
»Vor einem Jahr ist meine Mutter bei einem Verkehrsunfall gestorben. Mein Vater wollte mich in die USA abschieben, aber ich hab’s dort nicht ausgehalten. Als ich zurückkam, hatte ich nicht mal mehr ein Zimmer in unserer Wohnung. Mein Vater hatte längst eine neue Freundin. Er hat mir zwei Koffer vor die Tür gestellt und gesagt, ich solle sehen, wo ich bleibe. Dabei bin ich erst sechzehn«, erzählte ich. In diesem Moment fühlte die Geschichte sich nicht einmal wie eine Lüge an. Ich kam mir tatsächlich davongejagt vor. Von meinem Vater – und von seiner schwangeren Neuen.
»Mein Gott, das ist ja furchtbar! Musstest du etwa auf der Straße schlafen?«, wollte die Dame wissen.
»Ich hatte Glück. Ich habe Menschen getroffen, die sich um mich kümmern«, wich ich aus und fuhr fort: »Ich bin nicht die Einzige, die so was erlebt hat. Vielen ging es noch dreckiger als mir. Aber jetzt leben wir im Spreewald, nahe der Ortschaft Burg. Wir bauen Gemüse an und verkaufen selbst gemachte Sachen, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen und dem Staat nicht auf der Tasche zu liegen.« Ich war sehr stolz auf meine Rede. Auch die Frau schien beeindruckt.
»Ja, wenn das so ist …«, sagte sie und zückte ihre Börse.
Als sie sich verabschiedete, hatte sie nicht nur ein, sondern gleich drei Armbändchen gekauft – und dazu die passenden Ketten. Ich blickte auf den 50-Euro-Schein in meiner Hand und konnte es nicht fassen, wie leicht es gewesen war, die Frau zu ködern. Jetzt hatte ich Blut geleckt. Ich sprach jeden an, der sich meiner Decke näherte und gab nicht auf, bis die Leute mir etwas abkauften. Keinen, der auch nur eine Sekunde lang vor dem Schmuck stehen blieb, ließ ich mehr von der Angel. Schnell lernte ich, meine Geschichten den Leuten anzupassen. Dem jungen Paar, das ihr Kind im Buggy schob, erzählte ich, der Erlös für den Schmuck sei für Mädchen, die in ihrer Kindheit das Opfer von Missbrauch geworden waren. Die Frau kaufte zwei Paar Ohrringe und legte noch einen Fünfer drauf. Dem geschniegelten Unternehmensberater-Typ im Anzug redete ich ein, er würde mit dem Kauf eines Schmuckstücks dazu beitragen, dass Kindern, die bisher auf der Straße gelebt und Drogen
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