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Moorseelen

Moorseelen

Titel: Moorseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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es auch bleiben, selbst wenn ich nicht mehr zu meinem Vater oder nach Berlin zurückgehen würde. Denn meine Mutter hatte den Namen damals für mich ausgesucht.
    »Nachdem du auf die Welt gekommen warst und ich dich das erste Mal im Arm gehalten habe, hast du auf einmal die Augen aufgemacht und mich angesehen. Da wusste ich, dass du eine Feline bist«, hatte sie mir früher oft erzählt. Mein Vater hätte mich gerne Hannah getauft, hatte aber lachend nachgegeben. Damals hatte er sich noch gefreut, eine Tochter zu haben, dachte ich mit einem bitteren Gefühl im Herzen. Dennoch: Jetzt den Namen abzulegen, den meine Mutter für mich gewollt hatte, erschien mir absurd. Andererseits wollte ich Kali nicht verletzen. Zu dünn und schwankend war noch der Boden, auf dem ich mich in der Oase bewegte. »Das ist eine interessante Idee«, erwiderte ich deshalb diplomatisch, »ich denk darüber nach.«
    Kali musterte mich und in ihren Mundwinkeln nistete ein spöttisches Lächeln. »Auf gut Deutsch: Das kannst du knicken«, stellte sie lakonisch fest. Als sie mein schuldbewusstes Gesicht sah, prustete sie los. »Hier in der Oase reden wir Klartext«, belehrte sie mich. »Du darfst immer sagen, was du denkst. Dieses Um-den-heißen-Brei-Reden, wie es die anderen da draußen tun, haben wir uns abgewöhnt. Das ist verlogen«, ereiferte sie sich.
    »Okay, es kommt mir im Moment noch ein bisschen komisch vor, einen anderen Namen anzunehmen. Zufrieden?«, sagte ich halb lachend, halb genervt, weil Kali mich so problemlos durchschaut hatte. Sie zuckte nur die Schultern.
    »No problem«
, sagte sie, warf mir noch ein Lächeln zu und ging näher ans Feuer.
    Aryana kam und setzte sich neben mich. »Schön, oder?«, fragte sie verträumt und deutete auf das Lagerfeuer. »Diesen Flammen mit ihren kleinen blauen Feuerzungen könnte ich stundenlang zusehen. Besser als jeder Film.« Ich nickte. Sie sah mich an. »Prima, dass du hierbleibst«, sagte sie leise und ernst. Sie war wirklich die Netteste von allen. Weshalb sie wohl in der Oase gelandet war? Ich beschloss, sie danach zu fragen. Für eine Sekunde schienen dunkle Wolken durch das Graublau ihrer Augen zu ziehen und ihr Mund bog sich in einem Ausdruck von Trauer nach unten. »Meine Mutter«, antwortete sie knapp. Und fuhr nach einer kurzen Pause seufzend fort: »Sie hing an der Flasche, seit ich denken kann. Ich hab wirklich alles versucht. Den Wodka weggeschüttet, die Flaschen versteckt … Genauso gut hätte ich aber versuchen können, den Amazonas trockenzulegen. Nur wegen meines kleinen Bruders Ole bin ich nicht ausgeflippt. Ich hab ihn in die Kita gebracht und nachmittags wieder abgeholt …« Sie schwieg, den Blick ins Nichts gerichtet. Vielleicht sah sie sich selbst durch die Straßen gehen, einen kleinen Jungen an der Hand, oder eine Wohnung betreten, wo leere Schnapsflaschen über den Boden rollten und eine betrunkene Mutter auf dem Sofa lag. »Irgendwann kam so eine Tante vom Jugendamt unangemeldet vorbei«, fuhr Aryana fort. »Eine Nachbarin hatte Alarm geschlagen, weil meine Mutter mitten in der Nacht im Suff unser halbes Geschirr zerschmissen hatte. Sie haben Ole mitgenommen. Da bin ich abgehauen, durchs Fenster. Drei Monate war ich auf Trebe. Die Nacht vor meinem achtzehnten Geburtstag habe ich überm Luftschacht von einem Supermarkt gepennt. Aber dann habe ich Zeno und die Gruppe getroffen«, berichtete sie und auf einmal strahlten ihre Augen. »Das war letztes Jahr im Spätherbst. Seitdem wohne ich hier.«
    Ich starrte sie an. Ich konnte mir die zartgliedrige, gutmütige Aryana nicht als Straßenkind vorstellen, das über Luftschächten schlief und bettelte oder klaute. Sie sah mich an und lächelte schief.
    »Ohne Zeno wäre ich wahrscheinlich unter irgendeiner Brücke draufgegangen«, sagte sie leise.
    »Wären wir doch alle«, meldete Irina sich zu Wort, die sich unbemerkt zu uns gesellt hatte. Schnell sah ich zu ihr hin. Sie starrte auf den Boden. Ihr langarmiges Shirt war bis über die Ellenbogen hochgeschoben und sie kratzte sich selbstvergessen die bloßen Unterarme. Ich sah dünne, weiße Streifen, die sich diagonal über die Handgelenke zogen. Als sie meinen Blick bemerkte, zog sie sich hastig die Ärmel ihres Pullis runter. »Hier hat keiner Grund, sich oder andere zu bemitleiden«, sagte sie scharf. »Wir haben Glück, jetzt in dieser Gemeinschaft leben zu dürfen, und nur das zählt.«
    Aryana nickte schuldbewusst. »Ich geh mir noch was zu Trinken holen«,

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