Moorseelen
gegangen und …
Ab hier hatte er Mühe, sich zu erinnern. Sein Kopf pochte im Takt seines Herzschlags und strahlte Wellen des Schmerzes bis hinunter zu seinem Nacken aus. Dennoch bemühte Nick sich, zu rekonstruieren, wieso er plötzlich nichts mehr wusste. Das Einzige, woran er sich erinnerte: Er wollte vor dem Essen die Zündkerzen noch in seine Vespa schrauben, um sofort mit Feline startklar zu sein, sobald alle schliefen. Wie ein Fernsehfilm, der immer wieder von Störungen unterbrochen wurde, kehrten die Bilder zurück. Er hatte sich auf den Weg zu seinem Roller gemacht. Er hatte ihn erreicht, sich hinuntergebeugt, um die Klappe vorne unter dem Sitz abzumachen, wo die Zündkerzen eingesetzt wurden. Und dann … Filmriss. Aber so, wie sein Kopf schmerzte, musste er gefallen sein. Oder jemand hatte ihm einen Schlag verpasst. Nick wollte die Hand heben, um zu prüfen, ob er blutete. Da merkte er, dass das nicht ging. Er konnte seine Hände nicht bewegen! Eine Sekunde lang hatte er Panik, gelähmt zu sein, doch dann wurde ihm klar, was ihn bewegungsunfähig machte. Es waren Fesseln. Offenbar war jemand hinter seine Pläne gekommen und wollte sie unter allen Umständen verhindern. Und nun kroch eine viel größere Angst in ihm hoch: Wusste derjenige, der ihn niedergeschlagen hatte, dass sie zu zweit abhauen wollten? »Feline«?, fragte Nick vorsichtig in die Schwärze, die so dicht war, als würde er in einem Tintenfass liegen. Keine Antwort. »Feline, bist du da?« Er rief lauter, doch alles blieb still. »Feline!« Jetzt brüllte er aus Leibeskräften, doch gleichzeitig ahnte er: Dort, wo er war, würde ihn niemand hören.
*
Sauer stapfte ich über den Platz, Richtung Mädchenschlafsaal. Kali an meiner Seite redete begeistert davon, wie sie es heute die ganze Meditationsstunde über geschafft hatte, ihren »Geist zu leeren«. Ich konnte jedoch nur an Nick denken, der einfach wortlos verschwunden war. Auf einmal stockte ich. Die Polizei hätte eigentlich längst hier sein müssen. Mit Nicks Vespa brauchte man höchstens eine halbe Stunde nach Burg. Machte eine Stunde Hin- und Rückfahrt. Plus vielleicht noch eine Stunde, um die Polizeibeamten zu überreden, nach einem verschwundenen Mädchen zu suchen. Seit dem Abendessen waren aber dreieinhalb Stunden vergangen, und da hatte Nick bereits gefehlt. Waren die Polizisten gleich zum See gefahren? Unwahrscheinlich, denn wenn Nick Zeno beschuldigte, zusammen mit Urs in der Sache drinzuhängen, würde doch wenigstens ein Polizist hier in der Oase nach dem Rechten sehen.
Ein mulmiges Ziehen wie beim schnellen Bergabfahren einer Serpentinenstraße machte sich in meinem Magen breit. Wir kamen an dem Gebäude vorbei, in dem Nick mit Urs und Lukas untergebracht war.
»Hör mal, Kali. Nick war heute nicht beim Essen. Ich frage mal rasch, ob er krank ist, ja?«, sagte ich. Zu meiner Überraschung nickte Kali.
»Okay«, sagte sie gleichmütig und bog mit mir zusammen zu den Häusern der Jungs ab.
Tief durchatmend klopfte ich an die Tür. Sie wurde ein Stück geöffnet und das Mondgesicht von Urs erschien.
»Ist Nick da?«, fragte ich und versuchte, an ihm vorbei ins Innere zu schielen. Aber Urs’ massige Gestalt füllte den Türspalt vollständig aus.
»Der schläft«, erwiderte Urs kurz angebunden.
»Ist ihm nicht gut?«, wollte ich wissen und versuchte, mich an Urs vorbeizudrücken. »Er hatte Magenschmerzen, okay? Am besten, du lässt ihn schlafen!«, gab Urs barsch Auskunft, und ehe ich noch etwas erwidern konnte, knallte er die Tür zu.
»Armer Nick«, sagte Kali, doch sie klang eher gleichgültig. Ich runzelte die Stirn. Vorhin war er noch putzmunter gewesen. Von Übelkeit keine Spur. Eher hatte Urs gerade etwas blass und angespannt gewirkt … Ein schrecklicher Verdacht beschlich mich. War Nick vielleicht weder krank noch bei der Polizei?
Stocksteif vor Schreck blieb ich noch einen Moment auf der Schwelle stehen. Ich brauchte eine Idee – schnell.
»Weißt du was, ich laufe schnell zu Zeno. Deva hat sicher was, das Nick hilft«, sagte ich gepresst.
Kali zögerte einen Moment. Wusste sie Bescheid, dass Urs log?
»Du kannst ruhig schon mal schlafen gehen – oder hat dich etwa jemand beauftragt, mich zu bewachen?«, setzte ich nach. Ich verlieh meiner Stimme einen scherzhaften Tonfall, doch ein ertappter Ausdruck huschte über Kalis Gesicht.
»Nein, natürlich nicht«, sagte sie mit einem falschen Ton in ihrer Stimme. Ich lächelte sie spöttisch an. Stumm
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