MoR 02 - Eine Krone aus Gras
ein Jahr zuvor hatte Sokrates in Pontos um Asyl gebeten. Sokrates war seitdem zu einer Marionette in der Hand des Königs geworden, und Mithridates glaubte nun, daß er Sokrates ohne Risiko auf den bithynischen Thron setzen konnte — in Vorbereitung einer richtigen Invasion, die er für das kommende Frühjahr plante. Der König wollte so schnell nach Westen marschieren, daß König Nikomedes III. keine Zeit für eine Reaktion blieb.
Die Nachrichten, die Gordios nun überbrachte, stimmten den König freilich nachdenklich. Konnte er es wagen, Bithynien zu annektieren oder auch nur Sokrates dort auf den Thron zu setzen, wenn nicht nur einer, sondern sogar zwei römische Statthalter so nahe waren? Vier Legionen in Kilikien! Man sagte, daß vier gute römische Legionen es mit dem Rest der Welt aufnehmen konnten. Zwar handelte es sich in diesem Fall nur um kilikische Hilfstruppen, nicht um richtige römische Soldaten, aber die Kilikier waren kriegerisch und stolz — andernfalls hätte Syrien sich längst ihres Landes bemächtigt, das ohnehin geschwächt war. Vier Legionen entsprachen etwa 20 000 kämpfenden Soldaten. Pontos dagegen konnte 200 000 Soldaten ins Feld schicken. Was das zahlenmäßige Verhältnis betraf, hatten die Römer keine Chance. Und doch... Wer war dieser Lucius Cornelius Sulla in Wirklichkeit? Niemand hatte je etwas von Gaius Sentius oder seinem Legaten Quintus Bruttius Sura gehört, und doch führten die beiden entlang der makedonischen Küste von Illyrien im Westen bis zu den Dardanellen im Osten einen vernichtenden Feldzug, der die Kelten und Thraker in Panik versetzte. Niemand konnte jetzt noch sicher sein, daß die Römer nicht auch in die Länder an der Donau eindringen würden. Mithridates plante selbst, vom westlichen Ufer des Schwarzen Meeres in die Länder an der Donau vorzustoßen. Der Gedanke, bei seiner Ankunft dort auf die Römer zu treffen, war ihm nicht sehr angenehm.
Wer also war dieser Lucius Cornelius Sulla? Ein weiterer römischer Feldherr vom Format eines Sentius? Warum schickte Rom den Mann als Statthalter nach Kilikien, wenn Männer wie Gaius Marius und Catulus Caesar zur Verfügung standen, die beide die Germanen besiegt hatten? Einer von ihnen — Marius — war allein und unbewaffnet in Kappadokien erschienen und hatte keinen Hehl daraus gemacht, daß er die Unternehmungen des pontischen Königs von Rom aus sehr aufmerksam verfolgen würde. Warum also war nicht Gaius Marius nach Kilikien entsandt worden? Warum war statt dessen dieser unbekannte Lucius Cornelius Sulla gekommen? Offenbar war Rom in der Lage, jede Menge glänzende Feldherren hervorzubringen. War Sulla vielleicht sogar noch besser als Marius? Pontos mochte zwar über Soldaten im Überfluß gebieten, über glänzende Feldherren verfügte es nicht. Archelaos war begierig darauf, sich mit einem gewichtigeren Feind zu messen, nachdem er den Kampf gegen die Barbaren oberhalb des Schwarzen Meeres so erfolgreich geführt hatte. Aber Archelaos war ein Vetter, er hatte königliches Blut in den Adern und war ein potentieller Rivale. Gleiches galt möglicherweise für seinen Bruder Neoptolemos und seinen Vetter Leonippos. Und welcher König konnte sich schon auf seine Söhne verlassen? Die Mütter dieser Söhne hungerten nach Macht, sie waren allesamt potentielle Gegnerinnen. Und potentielle Gegner waren auch die Söhne, wenn sie erst alt genug waren, aus eigenem Antrieb nach dem Thron zu streben.
Wenn ich nur ein guter Feldherr wäre! dachte König Mithridates. Seine grün- und braungefleckten Augen glitten gedankenabwesend über die Gesichter der Männer vor ihm. Die Feldherrnkunst gehörte nicht zu den heroischen Talenten, die sein Urahn Herakles ihm vererbt hatte. Oder vielleicht doch? Aber Herakles war kein Feldherr gewesen! Herakles war ein Einzelkämpfer gewesen — gegen Löwen und Bären, Usurpatoren, Götter und Göttinnen, gegen Hunde der Unterwelt und gegen alle möglichen Ungeheuer. An dieser Art von Gegnern hätte auch Mithridates Gefallen gefunden. Zu Herakles’ Zeiten hatte es noch keine Feldherren gegeben. Krieger rotteten sich zusammen, trafen auf andere Kriegerbanden, stiegen von ihren Kampfwagen, mit denen sie offenbar überallhin fuhren, und kämpften von Mann zu Mann. An dieser Art von Krieg hätte der König Geschmack gefunden! Aber jene Zeiten waren vorüber, auch Kampfwagen gab es nicht mehr. Die modernen Zeiten gehörten den großen Heeren, und die Feldherren waren Halbgötter. Sie standen oder
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