MoR 02 - Eine Krone aus Gras
dahin. Dort hatte man Kanäle zwischen den beiden Flüssen gebaut, um dem Tigris Wasser für den Rest seines Weges zum Persischen Golf zuzuführen.
Wer besucht wen? überlegte Sulla. Er ließ ein stark befestigtes Lager errichten und wartete auf dem westlichen Ufer ab, ob Tigranes zuerst nachgeben und den Fluß überqueren würde. Tigranes gab zuerst nach, aber nicht aus Angriffslust oder Furcht, sondern aus Neugier. Mehrere Tage waren vergangen, aber Sulla hatte sich nicht sehen lassen; der König konnte es einfach nicht mehr aushalten. Das königliche Boot wurde zu Wasser gelassen, ein flacher, vergoldeter Stocherkahn. Ein gold- und purpurfarbener, mit Goldfransen verzierter Baldachin schützte den König vor der Sonne, darunter stand ein kleines Podium mit einem der kleineren Thronsessel des Königs, einem prächtigen Stuhl aus Gold, Elfenbein und Edelsteinen.
Der König wurde in einem vierrädrigen goldenen Wagen zum hölzernen Anlegesteg gefahren. Der Wagen blitzte und glänzte so sehr, daß den Zuschauern auf dem Westufer die Augen schmerzten. Auf dem Wagen hinter dem König stand ein Sklave, der einen goldenen, mit Edelsteinen besetzten Sonnenschirm über das Haupt seiner Majestät hielt.
»Wie er damit wohl fertig wird?« fragte Sulla seinen Sohn. Sie standen versteckt hinter einem Wall von Kampfschilden.
»Was meinst du, Vater?«
»Dignitas!« rief Sulla grinsend. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß er seine Füße auf diesem Holzsteg beschmutzen will, aber sie haben keinen Teppich für ihn ausgerollt.«
Das Dilemma wurde elegant gelöst. Zwei kräftige Sklaven schubsten den Sonnenschirm-Halter beiseite, stiegen auf den Wagen mit den kleinen Rädern, schlangen die Arme ineinander und warteten. Anmutig nahm der König mit seinem königlichen Hinterteil auf den Armen Platz und wurde von ihnen zur Königsbarke getragen und sanft auf den Thron gesetzt. Unbeweglich saß Tigranes auf dem Thron, während die Barke schwerfällig über den trägen Fluß fuhr. Tigranes schien die Ansammlung von Zuschauern auf dem Westufer nicht zu bemerken. Dann stieß die Barke an das steilere Westufer, an dem sich kein Anlegesteg befand. Der ganze Prozeß begann von vorne. Die Sklaven hoben den König vom Thron, traten zur Seite, so daß der Thron auf einen hochgelegenen, flachen Felsen geschafft und dort aufgestellt werden konnte, und der königliche Sonnenschirm-Halter kletterte hinauf, um den Thron zu beschatten. Erst dann wurde der König hinauftransportiert und wieder auf seinen Stuhl gesetzt — für die Sklaven eine recht anstrengende Arbeit.
»Gut gemacht!« rief Sulla.
»Was meinst du damit?« fragte der lernbegierige Sohn.
»Er hat mich überlistet, junger Sulla! Ich kann sitzen, worauf ich will, und selbst wenn ich stehen bleibe — er wird über mir thronen! «
»Was kannst du tun?«
Sulla war den Blicken des auf seinem Thron sitzenden Königs verborgen. Er gab seinem Leibsklaven ein Zeichen. »Hilf mir, die Rüstung abzulegen«, befahl er und zerrte am Lederriemen seines Brustpanzers.
Als er die Rüstung abgelegt hatte, zog er auch den ledernen Rock und die scharlachrote Tunika aus. Dann legte er eine grobgewebte Tunika an, band eine Kordel um die Hüften, warf einen mausgrauen Bauernmantel über die Schultern und setzte seinen breitkrempigen Strohhut auf.
»Wenn du der Sonne begegnest«, sagte er grinsend zum jungen Sulla, »mußt du zur Höhle werden.«
Gekleidet wie ein einheimischer Bauer, trat Sulla zwischen den römischen Wachen hervor und spazierte zu der Stelle, über der Tigranes wie eine Statue auf seinem Thron zu schweben schien. Der König maß der Erscheinung tatsächlich keine Bedeutung bei, sondern starrte stirnrunzelnd über ihn hinweg auf das römische Heer.
»Sei gegrüßt, König Tigranes. Ich bin Lucius Cornelius Sulla«, sagte Sulla auf Griechisch, als er am Fuß des Felsens angekommen war, auf dem der Thron stand. Er nahm seinen Hut vom Kopf und blickte hinauf. Seine farblosen Augen waren weit geöffnet, da sich der Sonnenschirm des Königs zwischen ihm und der Sonne befand.
Der König starrte mit offenem Mund auf Sullas Haare und in seine Augen. Einen Menschen, der sein ganzes Leben lang nur braune Augen gesehen hatte und der die gelblichen Augen seiner Königin für einzigartig hielt, mußten Sullas Augen entsetzen — sie waren geradezu bedrohlich hell.
»Ist das dein Heer, Römer?« fragte Tigranes.
»Das ist mein Heer.«
»Was hat es in meinem Land zu suchen?«
»Wir
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