MoR 02 - Eine Krone aus Gras
waren hierher gekommen, als sie erfuhren, daß eine fremde, aber friedfertige römische Macht durch das Land zog.
Sulla hielt ihre Namen für unaussprechbar. Da aber beide Könige ihre Namen mit griechischen Attributen verherrlichten, nannte Sulla den König von Kommagene Epiphanes und den König von Osroene Philoromaios.
»Hochgeehrter Römer, du befindest dich in Armenien«, sagte Epiphanes sehr ernst. »Der mächtige König Tigranes wird annehmen, daß du in sein Land eingefallen bist.«
»Und er ist nicht weit von hier«, erklärte Philoromaios, ebenfalls sehr ernst.
Sulla wurde aufmerksam, er empfand jedoch keine Furcht. »Er ist nicht weit weg?« fragte er eifrig. »Wo steht er denn?«
»Er will eine neue Hauptstadt in Südarmenien bauen und hat sich bereits für einen Ort entschieden«, erklärte Philoromaios. »Die Stadt soll Tigranokerta heißen.«
»Wo ist der Ort?«
»Östlich von Amida und dann etwas nach Norden, ungefähr fünfhundert stades von hier«, sagte Epiphanes.
Sulla rechnete kurz nach. »Das sind ungefähr sechzig Meilen.«
»Du willst doch nicht dorthin ziehen?«
»Warum nicht?« fragte Sulla. »Ich habe niemanden getötet, keinen Tempel ausgeraubt, keine Nahrungsmittel gestohlen. Ich komme in friedfertiger Absicht, um mit König Tigranes zu sprechen. Ich bitte euch um einen Gefallen: Schickt Boten zu König Tigranes in Tigranokerta und laßt ihn wissen, daß ich zu ihm komme — in Frieden!«
Die Botschafter wurden losgeschickt. Tigranes hatte bereits erfahren, daß Sulla nahte, zögerte aber, seinen Vormarsch aufzuhalten. Was hatte Rom östlich des Euphrat zu suchen? Natürlich mißtraute Tigranes Sullas Friedfertigkeit, aber die Größe des römischen Heeres wies nicht auf eine ernsthafte Invasion hin. Die zentrale Frage war, ob er angreifen sollte oder nicht — wie Mithridates hatte auch Tigranes große Ehrfurcht vor dem Namen Rom. Er beschloß deshalb, erst anzugreifen, wenn er selbst angegriffen wurde. Und zunächst würde er mit seinem Heer diesem Lucius Cornelius Sulla entgegenziehen und mit ihm sprechen.
Natürlich hatte Tigranes gehört, wie es Mithridates ergangen war. Er hatte einen in beleidigtem und selbstgerechtem Ton geschriebenen Brief bekommen, in dem er über Gordios’ Tod informiert wurde. Mithridates hatte ihm ferner mitgeteilt, Kappadokien stehe wieder unter der Herrschaft der römischen Marionette, des Königs Ariobarzanes; eine römische Armee sei von Kilikien gekommen, und ihr Befehlshaber (dessen Name er nicht erwähnte) habe ihn, Mithridates, aufgefordert, nach Hause zurückzukehren. Wie der König von Pontos weiter ausführte, habe er es für richtig gehalten, den Plan, nach der endgültigen Unterwerfung Kappadokiens in Kilikien einzufallen, vorläufig aufzugeben. Mithridates forderte Tigranes in seinem Brief auf, nicht wie ursprünglich geplant nach Westen nach Syrien zu marschieren, um dort mit seinem Schwiegervater auf der fruchtbaren Ebene des kilikischen Pedien zusammenzutreffen.
Keiner der beiden Könige hatte sich auch nur einen Augenblick lang vorstellen können, daß der Römer Lucius Cornelius Sulla, nachdem sein Auftrag in Kappadokien erfolgreich beendet war, in eine andere Richtung als zurück nach Tarsos marschieren würde. Als Tigranes dann endlich glaubte, was ihm seine Kundschafter berichteten — daß Sulla am Euphrat entlangzog, um eine Gelegenheit zur Überquerung zu finden —, war es zu spät. Mithridates in Sinope würde seine Botschaft erst bekommen, wenn Sulla bereits an der armenischen Grenze stand. Deshalb hatte Tigranes eine Nachricht über Sullas Vormarsch an seine parthischen Herren in Seleukeia am Tigris geschickt. Das war für seine Boten eine zwar lange, aber leichte Reise.
Der König von Armenien traf mit Sulla am Tigris einige Meilen westlich des Ortes zusammen, an dem er seine neue Hauptstadt errichten wollte. Als Sulla am westlichen Ufer ankam, erblickte er Tigranes’ Lager am östlichen Ufer. Im Vergleich zum Euphrat war der Tigris ein seichter Bach mit bräunlichem Wasser, das schwerfällig dahinfloß. Der Tigris war nur etwa halb so breit wie der Euphrat. Seine Quelle lag auf der falschen Seite des Anti-Taurus, so daß er nicht einmal ein Zehntel der Nebenflüsse des Euphrat hatte, in den auch das meiste Schmelzwasser und die meisten Quellen flossen. Fast tausend Meilen südlich, in der Gegend um Babylon, Ktesiphon und Seleukeia am Tigris, flossen die beiden Ströme nur etwa vierzig Meilen voneinander entfernt
Weitere Kostenlose Bücher