MoR 02 - Eine Krone aus Gras
seiner Lippe. Diese Römer! Warum konnten sie sich nicht aus Dingen heraushalten, die sie nichts angingen? Warum kümmerte sich ein so bedeutender Mann wie Gaius Marius darum, was die Völker Ostanatoliens machten? Hatte Ariarathes schon mit den Römern vereinbart, Mithridates Eupator vom Thron zu stoßen und Pontos zu einer Satrapie von Kappadokien zu machen?
»Der Weg nach oben war zu lang und zu beschwerlich«, sagte er zu seinem Vetter Archelaos. »Ich werde mich den Römern nicht beugen!«
Sein Weg war tatsächlich lang und beschwerlich gewesen, eigentlich seit seiner Geburt, denn er war der jüngere Sohn von König Mithridates V. und dessen Schwester und Gattin Laodike. Mithridates, genannt Eupator, wurde im selben Jahr geboren, in dem Scipio Aemilianus auf so geheimnisvolle Weise starb. Er hatte einen weniger als zwei Jahre älteren Bruder, der Mithridates Chrestos genannt wurde, weil er der Gesalbte war, der auserwählte König. Ihr Vater, der König, hatte davon geträumt, Pontos auf Kosten der Nachbarländer auszudehnen, vorzugsweise auf Kosten Bithyniens, seines ältesten und hartnäckigsten Feindes.
Zuerst hatte es so ausgesehen, als werde Pontos den Titel »Freund und Verbündeter des Römischen Volkes« behalten, den König Mithridates IV. erworben hatte, als er Attalos II. von Pergamon im Krieg gegen König Prusias von Bithynien Hilfe geleistet hatte. Der fünfte Mithridates hatte die Allianz mit Rom einige Zeit aufrechterhalten. Er hatte Rom im dritten Punischen Krieg gegen Karthago unterstützt und Rom auch gegen die Nachkommen des dritten Attalos von Pergamon geholfen, der sein gesamtes Königreich testamentarisch Rom vermacht hatte. Aber dann hatte Mithridates Phrygien an sich gebracht, indem er der Privatschatulle des römischen Prokonsuls in Asia Minor, Manius Aquillius, eine beträchtliche Summe Goldes zukommen ließ. Der Titel Freund und Verbündeter war ihm entzogen worden, und seitdem herrschte Feindschaft zwischen Rom und Pontos. Sowohl König Nikomedes von Bithynien als auch die mit Aquillius verfeindeten Senatoren in Rom versuchten nach Kräften, diese Feindschaft anzuheizen.
Trotz der Feindschaft mit Rom und Bithynien hatte Mithridates V. seine Expansionspolitik fortgesetzt. Er hatte zuerst Galatien seinem Einflußbereich einverleibt und es dann geschafft, sich zum Erben des größten Teils von Paphlagonien ernennen zu lassen. Aber seine Schwester und Gattin mochte Mithridates nicht, sie wollte Pontos selbst regieren. Als der junge Mithridates Eupator neun Jahre alt war — zu dieser Zeit residierte der Hof in Amaseia —, ermordete Königin Laodike ihren Mann, der zugleich ihr Bruder war, und setzte den elf Jahre alten Mithridates Chrestos auf den Thron. Sie war natürlich die Regentin. Als Gegenleistung für die Garantie Bithyniens, die Grenzen von Pontos zu respektieren, gab sie die pontischen Ansprüche auf Paphlagonien auf und entließ Galatien in die Unabhängigkeit.
Noch keine zehn Jahre alt, floh Mithridates Eupator wenige Wochen nach dem Staatsstreich seiner Mutter aus Amaseia, denn er fürchtete, selbst ermordet zu werden. Im Gegensatz zu seinem schwerfälligen und fügsamen Bruder Chrestos erinnerte er seine Mutter nämlich an ihren Mann, und sie hatte davon immer häufiger gesprochen. Ganz auf sich gestellt, floh der Junge nicht nach Rom oder an einen benachbarten Hof, sondern in die Berge im östlichen Pontos. Den Einheimischen gegenüber machte er kein Geheimnis aus seiner Identität, sondern bat sie nur, ihn nicht zu verraten. Ehrfürchtig und geschmeichelt darüber, daß ein Mitglied des Königshauses aus freien Stücken bei ihnen Schutz suchte, schlossen sie Mithridates in ihr Herz und schützten ihn mit Inbrunst. Der junge Prinz zog von einem Dorf zum andern und lernte sein Land besser kennen als jemals ein Sproß des Königshauses zuvor. Er drang bis in die Landesteile vor, die kaum oder überhaupt nicht zivilisiert waren. In den Sommern streifte er frei umher, jagte Bären und Löwen und erwarb sich bei seinen einfachen Untertanen den Ruf großer Kühnheit. Er wußte, daß der Reichtum der pontischen Wälder ihm immer genug Nahrung bieten würde — Kirschen, Haselnüsse, Aprikosen, saftiges Gemüse, Rehe und Kaninchen.
In gewisser Weise sollte Mithridates Eupator später im Leben nie mehr so viel einfache Befriedigung finden und auch nie mehr von seinen Untertanen so aufrichtig bewundert werden wie während dieser sieben Jahre, als er sich in den Bergen des
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