MoR 02 - Eine Krone aus Gras
hatte. Innen war es spärlich ausgestattet, es ließ wenig Licht und Sonne herein und hatte kein Peristyl. Ihr Bruder hatte jedoch keine Zeit verschwendet: Das Haus war voller Bauarbeiter einer ortsansässigen Firma, und der Bauunternehmer erschien höchstpersönlich, um sie zu begrüßen und ihr zu versichern, das Haus werde in zwei Monaten in einem bewohnbaren Zustand sein.
Livia Drusa richtete sich also inmitten des chaotischen Treibens ein. Die Luft war voller Mörtelstaub, es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm von Hämmern, Schlegeln und Sägen, und zwischen den Arbeitern gingen ständig Fragen und Befehle in breitestem tusculanischem Latein hin und her. Obwohl Tusculum höchstens fünfzehn Meilen von Rom entfernt war, besuchten die Einwohner des Ortes die große Stadt nur selten. Livia Drusas beiden Töchter reagierten so, wie sie es von ihnen erwartet hatte. Die viereinhalbjährige Lilla war selig, während die stille und zurückhaltende Servilia das Haus, die durch die Bauarbeiten verursachte Unruhe und ihre Mutter ganz offensichtlich haßte, wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Servilias schlechte Laune störte wenigstens nicht weiter, während Lillas aufgeregte Teilnahme an allem das Chaos nur noch vermehrte.
Am nächsten Morgen übergab Livia Drusa ihre beiden Töchter der Obhut ihres Kindermädchens und Servilias strengem alten Lehrer und machte einen Morgenspaziergang. Sie genoß die friedliche Stille der Winterlandschaft und konnte kaum glauben, endlich die Fesseln ihrer langen Gefangenschaft abgeworfen zu haben.
Dem Kalender nach war es Frühling, in Wirklichkeit aber war es noch tiefster Winter. Der Pontifex Maximus Gnaeus Domitius Ahenobarbus hatte das Priesterkollegium, dem er vorstand, nicht beauftragt, das zu kurze Kalenderjahr mit den Jahreszeiten in Einklang zu bringen. Nicht daß Rom und die nähere Umgebung in diesem Jahr einen besonders harten Winter zu verzeichnen gehabt hätten — es hatte kaum geschneit, und der Tiber war nicht zugefroren. Die Temperatur lag über dem Gefrierpunkt, der Wind wehte nur selten stärker, und der Boden war mit Gras bedeckt.
Livia Drusa war so glücklich wie nie zuvor in ihrem Leben. Gemächlich schlenderte sie über die heimatlichen Felder, kletterte über eine niedrige Steinmauer, ging dann vorsichtig außen an einem bereits umgepflügten Feld entlang, kletterte über eine weitere Steinmauer und stand in einer Wiese voller Schafe. Die dummen Viecher, denen man Ledermäntel umgebunden hatte, rannten vor ihr weg, als sie sie anlocken wollte. Sie zuckte nur mit den Schultern und ging lächelnd weiter.
Hinter der Wiese stieß sie auf einen weiß angemalten Grenzstein, daneben befand sich ein kleiner, turmartiger Schrein. Auf dem Boden vor dem Schrein klebte noch das Blut eines Opfertiers. In den herunterhängenden Ästen eines überhängenden Baumes baumelten kleine Wollpuppen, Wollbälle und Knoblauchknollen, alles schon wettergegerbt und mitgenommen. Hinter dem Schrein stand ein umgedrehter Tontopf. Livia Drusa konnte der Versuchung nicht widerstehen und hob den Tontopf hoch. Sie stellte ihn aber sofort wieder hin, denn darunter lag der verwesende Körper einer Kröte.
Sie hatte zu lange in der Stadt gelebt und begriff nicht, daß sie fremden Boden betrat, wenn sie jetzt weiterging, und daß der Eigentümer dieses Landes offensichtlich ein Mensch war, der die Götter des Bodens und der Grenzen reich beschenkte. Als sie den ersten Krokus entdeckte, kniete sie sich auf den Boden und betrachtete das satte Gelb der Blume. Dann stand sie auf und starrte voller Ehrfurcht und Staunen auf die nackten Zweige der Bäume, als seien sie an diesem Tag eigens für sie erfunden worden.
Vor ihr lag eine Wiese mit Apfel- und Birnbäumen. An einigen Bäumen hingen noch Birnen, und sie konnte der Versuchung nicht widerstehen und pflückte eine. Die Birne war so süß und saftig, daß der Saft heruntertropfte und ihre Hände hinterher ganz klebrig waren. Sie hörte das Rauschen von Wasser und folgte dem Geräusch durch gepflegte Baumreihen, bis sie auf einen kleinen Bach stieß. Das Wasser war eiskalt, aber das machte ihr nichts aus. Sie wusch sich die Hände, rieb sie in der Sonne trocken und lachte vor sich hin. Die Sonne stand mittlerweile so hoch am Himmel, daß sie die Luft erwärmte. Sie zog ihre palla aus, kniete sich neben den Bach, breitete das große Tuch aus, legte es zu einem rechteckigen Bündel zusammen und stand wieder auf. Dann sah sie
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