MoR 02 - Eine Krone aus Gras
Drusa nicht. Die Sklaven hatten viele Freunde und Bekannte, sie nicht. Die Sklaven konnten untereinander enge Beziehungen eingehen, ohne daß sie dafür kritisiert wurden oder es ihnen jemand verbieten konnte, sie nicht. Daß diese Antwort nicht ganz der Wahrheit entsprach, kümmerte Livia Drusa nicht.
Für sie war es die Wahrheit.
Die Sklaven hatten sie nicht gesehen, und Livia Drusa trat wieder vor. Es war fast Vollmond, und der Mond erleuchtete jeden Winkel der Stadt. Sie drehte sich um, legte die Arme auf die Balustrade und schaute zum Forum Romanum hinunter. Drusus’ Haus lag am Rand des Cermalus auf dem Palatin, genau an der Stelle, wo der Clivus Victoriae eine rechtwinklige Kurve machte und dann parallel zur Längsseite des Forum Romanum verlief. Vom Haus hatte man eine herrliche Aussicht. Früher hatte man nach links über die unbebaute area Flacciana bis nach Velabrum sehen können, aber jetzt versperrte dort die von Quintus Lutatius Catulus Caesar erbaute riesige Säulenhalle die Sicht. Im übrigen aber war alles beim alten geblieben. Das Haus des Pontifex Maximus Gnaeus Domitius Ahenobarbus ragte immer noch unterhalb von Drusus’ Haus auf, und Livia Drusa hatte einen unverstellten Blick auf dessen Loggia.
Es war ein Rom ohne das geschäftige Treiben, das tagsüber herrschte, und die prächtigen Farben, in denen alles angemalt war, waren nun zu Grautönen und hier und da zu einem Glitzern verblaßt. Dennoch herrschte in der Stadt beileibe keine Totenstille. Überall sah man Fackeln in den dunklen Straßen aufleuchten, Karren rumpelten durch die Gassen, und das Gebrüll der Ochsen drang bis an Livias Ohr. Viele Ladenbesitzer und Händler ließen sich in den Nachtstunden die Ware für den nächsten Tag anliefern, weil dann die Straßen nicht so überfüllt waren. Einige Betrunkene torkelten über den freien Platz des unteren Forums und grölten einen populären Gassenhauer — natürlich über die Liebe. Eine größere Eskorte von Sklaven bugsierte eine sorgfältig verschlossene Sänfte zwischen der Basilica Sempronia und dem Dioskurentempel hindurch. Wahrscheinlich geleiteten sie eine hochgestellte Dame von einer Einladung zum Essen nach Hause. Ein liebestoller Kater heulte den Mond an, und ein Dutzend Hunde begann zu bellen. Das wiederum amüsierte die Betrunkenen, die gerade an dem dunklen Rund des Versammlungsplatzes der Komitien vorbeikamen, so sehr, daß einer von ihnen den Halt verlor und unter dem Gelächter seiner Kameraden die Sitzreihen hinunterfiel.
Livia Drusas Blick schweifte zurück zur Loggia von Domitius Ahenobarbus’ Haus unter ihr und blieb sehnsüchtig an dem menschenleeren Balkon hängen. Es erschien ihr ewig her, noch länger als ihre Heirat, daß man sie jeglicher menschlicher Gesellschaft beraubt hatte. Sie hatte nicht einmal gleichaltrige Freundinnen gehabt, Bücher waren der einzige Trost ihres sinnlosen Lebens gewesen. Und sie hatte sich verliebt, verliebt in jemanden, dem sie wahrscheinlich nie begegnen würde. Damals hatte sie öfters in der hellen Sonne auf der Loggia gesessen und auf dem Balkon unterhalb von ihr nach einem großen, rothaarigen jungen Mann Ausschau gehalten. Der Mann hatte sie so sehr beeindruckt, daß sie ihn sich in ihrer Phantasie als König Odysseus von Ithaka vorstellte, der endlich gekommen war, um sie, seine treu auf ihn wartende Königin Penelope, zu erlösen. Die wenigen Male, die sie den jungen Mann im Lauf der Jahre sah — er war offensichtlich kein sehr häufiger Gast im Hause Ahenobarbus —, hatten genügt, um ihre geheime und quälende Liebe aufrechtzuerhalten. Dieser Zustand hatte auch nach der Heirat mit Caepio angehalten und ihr Leiden nur noch vergrößert. Sie hatte keine Ahnung gehabt, wer der Mann war. Sie hatte nur eins gewußt: Er war kein Mitglied der Familie Domitius Ahenobarbus, denn die Familienangehörigen waren zwar rothaarig, aber untersetzt. Alle großen Geschlechter hatten bestimmte äußere Merkmale, an denen man sie erkannte, und der Mann sah ganz und gar nicht wie ein Ahenobarbus aus.
Nie würde sie den Tag vergessen, an dem sie die Wahrheit über ihn erfahren hatte. Es war der Tag, an dem ihr Schwiegervater von der Versammlung der Plebs wegen Hochverrats verurteilt worden war, der Tag, an dem Cratippus, der Verwalter ihres Bruders, zu ihnen auf die andere Seite des Palatins geeilt war und sie und die kleine Servilia aus dem Haus des Schwiegervaters zu ihrem Bruder in Sicherheit gebracht hatte: Ein unvergeßlicher Tag!
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