MoR 02 - Eine Krone aus Gras
verschwunden war, verschwand mit ihrem Kindermädchen, um ein verspätetes Abendessen einzunehmen. Servilia dagegen folgte der Mutter unbemerkt. Aus einem Versteck beobachtete sie, wie eine Dienerin die Spangen am Kleid der Mutter öffnete, und sie schnalzte mit der Zunge, als sie sah, daß der Körper der Mutter noch schmutziger war als ihre Kleider.
Als die Dienerin sich umdrehte, um zu prüfen, ob das Wasser auch die richtige Temperatur hatte, reckte Livia Drusa nackt wie sie war und ohne jede Scham die Arme so langsam und wollüstig über den Kopf, daß die kleine Servilia in ihrem Versteck neben der Tür die Geste, die sie mit dem Verstand erst sehr viel später verstehen würde, auf einer primitiven und atavistischen Ebene begriff. Livia Drusa ließ die Arme wieder sinken, umfing ihre schönen, vollen Brüste mit den Händen, rieb ihre Brustwarzen mit den Fingerkuppen und lächelte dabei unverwandt. Dann stieg sie in die Badewanne und drehte dem Mädchen den Rücken so hin, daß dieses mit einem Schwamm Wasser darüber laufen lassen konnte. Sie bemerkte nicht, wie Servilia hinter ihr die Tür aufmachte und aus dem Zimmer glitt.
Beim Essen erzählte Livia Drusa ihrer Tochter Servilia munter von der Birne, die sie gegessen hatte, dem ersten Krokus, den Puppen im Baum über dem Grenzschrein, dem kleinen Bach und sogar davon, wie sie die rutschige und steile Böschung hinabgestürzt sei. Servilia saß still daneben, aß und verzog keine Miene. Ein Außenstehender hätte das strahlende Gesicht der Mutter für das eines glücklichen Kindes und das Gesicht des Kindes für das einer besorgten Mutter halten können.
»Wunderst du dich, warum ich so glücklich bin, Servilia?« fragte die Mutter.
»Ja, das ist komisch«, antwortete das Kind ernst.
Livia Drusa beugte sich über den Tisch, an dem sie saßen, und strich ihrer Tochter eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. Zum ersten Mal empfand sie wirkliches Interesse an der Miniaturausgabe ihrer selbst. Sie fühlte sich an ihre eigene unglückliche Jugend erinnert.
»Als ich so alt war wie du«, sagte Livia Drusa, »kümmerte sich meine Mutter überhaupt nicht um mich. Daran war Rom schuld. Und erst vor kurzem wurde mir klar, daß Rom auf mich dieselbe Wirkung hatte. Deshalb wollte ich, daß wir für eine Weile aufs Land ziehen. Wir bleiben hier, bis der Vater wieder nach Hause kommt. Ich bin glücklich, weil ich frei bin, Servilia! Ich kann Rom vergessen.«
»Ich mag Rom«, entgegnete Servilia. Sie steckte den auf dem Tisch stehenden Speisen die Zunge heraus. »Außerdem hat Onkel Marcus einen besseren Koch.«
»Wir werden einen Koch nach deinem Geschmack finden, wenn das deine größte Sorge ist. Ist das so?«
»Nein, am meisten stören mich die Bauarbeiter.«
»Die sind in einem oder zwei Monaten fertig, dann haben wir unsere Ruhe. Morgen« — ihre Verabredung fiel ihr wieder ein und sie schüttelte den Kopf und lächelte — »nein, nicht morgen, aber übermorgen gehen wir zusammen spazieren.«
»Warum nicht morgen?« fragte Servilia.
»Weil ich den morgigen Tag noch für mich haben möchte.«
Servilia rutschte von ihrem Stuhl herunter. »Ich bin müde, Mama. Darf ich zu Bett gehen?«
Damit begann das glücklichste Jahr im Leben Livia Drusas, ein Jahr, in dem nur die Liebe zählte, die Liebe namens Marcus Porcius Cato Salonianus, von der auch Servilia und Lilla ein kleines bißchen abbekamen.
Schon bald stellten sich gewisse Gewohnheiten ein, denn Cato verbrachte natürlich nicht viel Zeit auf seinem Gut in Tusculum, oder zumindest war das bisher so gewesen. Als erstes brauchten sie einen sichereren Treffpunkt, wo sie nicht von einem Landarbeiter oder einem umherziehenden Schäfer entdeckt werden konnten und wo Livia Drusa sich waschen und herrichten konnte, bevor sie nach Hause zurückkehrte. Cato löste das Problem dadurch, daß er einer Familie kündigte, die eine kleine, abgelegene Hütte auf seinen Ländereien bewohnte. Bei sich zu Hause verkündete er, er werde sich gelegentlich in diese Hütte zurückziehen, um ein Buch zu schreiben. Das Buch mußte als Entschuldigung für alles herhalten, insbesondere für seine immer längeren Abwesenheiten von Rom und seiner Frau. Cato trat mit dem Buchprojekt in die Fußstapfen seines Großvaters. Auch er wollte ein ausführliches Handbuch über das römische Landleben verfassen, das eine Beschreibung sämtlicher auf dem Land gebräuchlichen Zauber, Riten, Gebete, Aberglauben und religiösen Gebräuche
Weitere Kostenlose Bücher