MoR 02 - Eine Krone aus Gras
ihn.
Er hatte gelesen. Die Schriftrolle in seiner Linken hatte sich wieder aufgerollt, er hatte sie ganz vergessen, so starr sah er dem Eindringling in seinem Obstgarten entgegen. König Odysseus von Ithaka! Ihre Augen begegneten sich, und Livia Drusa stockte der Atem, denn er hatte die Augen des Odysseus — groß, grau und wunderschön.
»Hallo!« rief sie und lächelte ihn unbefangen und zwanglos an. Sie hatte ihn so viele Jahre von ihrem Balkon aus beobachtet, daß er ihr in diesem Moment tatsächlich wie der nach Jahren zurückgekehrte Wanderer erschien, ein Mann, den sie mindestens so gut kannte, wie Penelope ihren Odysseus gekannt hatte. Sie warf sich die zusammengefaltete palla über den Arm und ging auf ihn zu, immer noch lächelnd und drauflosplappernd.
»Ich habe eine Birne geklaut«, sagte sie. »Sie hat herrlich geschmeckt. Ich habe gar nicht gewußt, daß Birnen so lange am Baum bleiben. Sonst verlasse ich Rom nur im Sommer und fahre ans Meer. Aber das ist etwas ganz anderes.«
Er antwortete nicht, sondern beobachtete nur mit seinen grauen, leuchtenden Augen, wie sie näherkam.
Ich liebe dich immer noch, sagte sie zu sich selbst. Ich liebe dich immer noch! Es ist mir egal, daß du von einem Sklaven und einem Bauern abstammst. Ich liebe dich. Wie Penelope habe auch ich die Liebe vergessen. Aber jetzt bist du nach so vielen Jahren zu mir zurückgekehrt, und ich liebe dich immer noch.
Als sie stehenblieb, war sie ihm bereits zu nahe, als daß es sich noch um die Zufallsbegegnung zweier Fremder hätte handeln können. Er spürte die Wärme, die ihr Körper ausstrahlte, und in den großen dunklen Augen, die auf ihn gerichtet waren, sah er Wiedererkennen. Liebe. Willkommen. Daher schien es ihm nur natürlich, einen Schritt auf sie zuzugehen und sie in die Arme zu nehmen. Livia Drusa sah zu ihm auf, legte die Arme um seinen Hals. Sie lächelten sich an und küßten sich. Sie waren alte Freunde, ein altes Liebespaar, ein Ehepaar, das sich über zwanzig Jahre nicht gesehen hatte, das durch die Intrigen der Götter und Menschen getrennt worden war. Die Wiedervereinigung bedeutete den Sieg über ihre Widersacher.
Seine Hände hielten sie fest, und auch das war wie ein Wiedererkennen. Sie brauchte ihm nicht zu sagen, er solle weggehen und sie in Ruhe lassen, denn er war der König ihres Herzens und war es immer gewesen. So ernst wie ein Kind, das einen kostbaren Schatz hütet, entblößte sie ihre Brüste und bot sie ihm dar. Dann entkleidete sie ihn, während er ihr Tuch auf dem Boden ausbreitete, und legte sich neben ihn. Sie zitterte vor Freude, küßte ihn auf den Hals und sog an seinem Ohrläppchen, nahm sein Gesicht zwischen die Hände, küßte ihn erneut auf den Mund, streichelte freudig erregt seinen Körper und flüsterte ihm tausend Koseworte zu.
Früchte, süß und klebrig — dünne, kahle Zweige, die in einen tiefblauen Himmel ragten — der ruckartige Schmerz eingeklemmter Haare — ein kleiner Vogel, der mit ausgebreiteten Flügeln am Rand einer faserigen Wolke klebte — zentnerschwer der unterdrückte Jubel, der herausbrechen will und dann plötzlich herausbricht — es war die vollkommene Ekstase!
Sie lagen stundenlang auf ihren Kleidern nebeneinander, dicht aneinander gedrängt und sich mit ihrer Haut gegenseitig wärmend. Dabei lächelten sie sich immer wieder ungläubig an, immer noch erstaunt darüber, daß sie sich wiedergefunden hatten, unschuldig wie die Kinder und sich keines Vergehens bewußt und völlig verzückt über die Entdeckungen, die sie am anderen machten.
Sie unterhielten sich auch. Livia Drusa erfuhr, daß er verheiratet war — mit einer gewissen Cuspia, der Tochter eines publicanus, eines Steuerpächters — und daß seine Schwester mit Lucius Domitius Ahenobarbus verheiratet war, dem jüngeren Bruder des Pontifex Maximus. Um die horrende Mitgift für seine Schwester aufbringen zu können, war er gezwungen gewesen, die reiche Cuspia zu heiraten. Sie hatten bislang keine Kinder, denn wie Livia Drusa fand auch er nichts Bewundernswertes oder Liebenswertes an seinem Ehepartner, und seine Frau beklagte sich bereits bei ihrem Vater, daß ihr Mann sie vernachlässige.
Als Livia Drusa ihm sagte, wer sie war, wurde Marcus Porcius Cato Salonianus sehr still.
»Bist du jetzt böse?« Sie richtete sich auf und sah ihn ängstlich an.
Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Wie könnte ich böse sein, wenn die Götter mich erhört haben. Sie haben dich nur wegen mir hierher
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