MoR 03 - Günstlinge der Götter
Augen gesehen. Ein weißes Hirschkalb war für sie die Verkörperung ihrer Schutzgöttin Diana. Daß Diana Sertorius ihre besondere Gunst zeigte, erhob ihn weit über alle gewöhnlichen Sterblichen. Und er hatte gewußt, wer das weiße Hirschkalb war, denn er war anbetend vor ihm auf die Knie gesunken.
Das weiße Hirschkalb war ihm seither wie ein Hund überallhin gefolgt. Niemand anderer durfte sich ihm nähern, nur Sertorius. Und, noch wunderbarer, das Kalb war nie gewachsen! Es war ein niedliches, kleines Kitz mit rubinroten Augen gelieben, das ständig um Sertorius herumtollte und von ihm liebkost und geküßt werden wollte. Es schlief auf einem Schaffell neben seinem Bett, und er hatte es sogar auf seinen Feldzügen dabei. Während der Schlacht band er es an einem sicheren Platz an einem Pfosten fest, da es sonst versucht hätte, ihm in das Getümmel zu folgen. Er durfte das Leben des Hirschkalbs nicht gefährden. Denn wenn es starb, würden die Spanier glauben, die Göttin habe ihn verlassen.
Tatsächlich glaubte er allmählich schon selbst, daß das weiße Kalb ein Beweis göttlicher Gunst war. Er nannte es natürlich Diana, und wenn er mit ihm sprach, bezeichnete er sich selbst als Papa.
»Papa ist hier, Diana!« pflegte er zu rufen.
Und Diana sprang sofort herbei und wollte geküßt werden. Sertorius ging in die Knie, schlang die Arme um das bebende kleine Wesen, drückte die Lippen in das weiche Fell, zog das Tier spielerisch am Ohr und streichelte es. Wenn er sich mit seinen Legaten beriet, durfte es jedoch nicht ins Haus. Verstört ließ es dann den Kopf hängen. Nach den Sitzungen mußte es der »Papa« jeweils mit vielen zusätzlichen Umarmungen und zärtlich gemurmelten Worten trösten; nur dann fraß es wieder. Verständlich, daß Diana Sertorius in Gedanken beinahe mehr beschäftigte als seine germanische Frau und sein halbgermanischer Sohn, die schließlich nicht gottgesandt waren. Nur seine Mutter liebte er mehr als das Hirschkalb, aber sie hatte er seit sieben Jahren nicht mehr gesehen..
Während das weiße Hirschkalb zufrieden die Nase in das frische Heu bohrte — im Winter gab es in Osca nur Schnee und Eis, kein frisches Gras —, setzte sich Sertorius auf einen Felsen hinter dem Haus und versuchte sich in Pompeius hineinzudenken. Ein Kind! Glaubten die Römer wirklich, daß dieses Kind aus Picenum ihn, Sertorius, besiegen konnte? Als er aufstand, war er zu dem Schluß gekommen, daß die Römer und der Senat sich von dem Verwirrspiel hatten täuschen lassen, das Philippus so gut beherrschte. Sertorius hatte natürlich seine Kontaktleute in Rom — Männer vornehmer Herkunft und mit klangvollen Namen. Unter Sullas Knute gab es viele Unzufriedene, und einige von ihnen hielten Sertorius über die Situation in Rom auf dem laufenden. Seit der Ernennung des Pompeius hatte sich der Ton ihrer Berichte leicht verändert. Einige wichtige Männer deuteten an, daß Rom Sertorius unter Umständen als Diktator willkommen heißen würde, wenn es ihm gelänge, den neuen Beherrscher des Senats zu schlagen.
Sertorius hatte jedoch noch über etwas anderes nachgedacht. In sein Haus zurückgekehrt, bestellte er Lucius Hirtuleius zu einem Gespräch unter vier Augen.
»Wir müssen absolut sichergehen, daß das alte Weib auch wirklich in Hispania Ulterior bleibt«, sagte er. »Vielleicht sind die Lusitanier keine ausreichende Abschreckung. Ich will deshalb, daß du mit deinem Bruder im Frühjahr das spanische Heer übernimmst und in Laminium in Stellung gehst. Wenn das alte Weib dem Kind dann doch helfen will, kannst du ihn aufhalten. Wenn er aus seiner Provinz auszubrechen versucht und den Oberlauf der Guadiana oder des Guadalquivir überschreitet, kannst du ihm entgegentreten.«
Sertorius’ spanisches Heer trug seinen Namen zu Recht. Es bestand aus vierzigtausend Soldaten lusitanischer und keltiberischer Stämme, die Sertorius und Hirtuleius mühevoll, aber erfolgreich in der Kampfweise der römischen Legionen ausgebildet hatten. Sertorius hatte daneben noch andere spanische Truppen zur Verfügung, die ihre hergebrachte Kampfweise beibehalten hatten und sich hervorragend darauf verstanden, Hinterhalte zu legen und Guerillakrieg zu führen. Aber er hatte von Anfang an gewußt, daß er römisch ausgebildete Legionen brauchen würde, wenn er Rom auf spanischem Boden schlagen wollte. Seit Carbos endgültiger Niederlage waren zwar viele Männer römischer oder italischer Herkunft nach Spanien gekommen, um bei
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