Morbus Dei: Im Zeichen des Aries: Roman (German Edition)
schließlich wieder vor ihm zu verstummen.
Mit einem Ruck wurde der Sack weggerissen. Johann schloss wegen der plötzlichen Helligkeit schmerzerfüllt die Augen. Dann öffnete er sie langsam.
Wolff saß neben ihm inmitten eines prunkvollen Salons. Die Decke war mit Stuck verziert und mit scheinarchitektonischen Bildern bemalt, die vorgaukelten, dass sich der Raum bis in den Himmel streckte. Die Wände waren mit schweren Stoffen verkleidet. Eine Vielzahl von Kerzen warf ein helles Licht, das dem des Tages beinahe ebenbürtig war.
Vor Johann stand ein Mann, der nicht älter als Ende dreißig sein konnte, mit fülligem Gesicht und Glubschaugen. Er machte einen gepflegten Eindruck, seine saubere Offiziersuniform vermochte jedoch nicht von der leicht verfilzten Perücke abzulenken.
Der schlaksige Adjutant zu seiner Rechten holte tief Luft. „General Wirich Philipp Lorenz Graf von und zu Daun, Oberbefehlshaber der kaiserlichen Truppen zur Verteidigung Turins.“
General von Daun nickte seinem Adjutanten wohlwollend zu, dann wandte er sich an Johann und Wolff und blickte sie aufmunternd an.
Wolff machte den Anfang. „Georg Maria Wolff, Leutnant der Rumorwache zu Wien.“
„Johann List, Schmied“, ergänzte Johann knapp.
„So so“, schmunzelte der General. „Ein Leutnant und ein Schmied, vereint im Kampfe zur Befreiung einer in Gefangenschaft geratenen Dame, wie ich hörte. Wenn das nicht heroisch klingt.“
Von Daun wandte sich ab und ging zu dem prächtig verzierten Tisch, der die Raummitte beherrschte. Auf ihm stand eine Apparatur, die weder Johann noch Wolff bekannt war. Sie war eine gute Elle lang, bestand aus einem hölzernen Podest, einer Walze aus Bronze, die vielerlei Noppen aufwies, und kleinen Röhrchen, die über der Walze herauszuwachsen schienen. An einem Ende war ein offener Kasten gleich dem eines Uhrwerks angebracht.
„Hört Ihr das?“, fragte der General und verharrte. Von draußen war wieder das Grollen der Mörser zu hören.
„Es heißt, dass des Soldaten liebste Melodie der Kanonendonner sei. Doch wartet mit Eurer Zustimmung, bis Ihr das Folgende gehört habt.“
Von Daun nahm einen großen Schlüssel, dessen Ende kein Bart, sondern ein viereckiges Röhrchen zierte, und steckte ihn in die Apparatur. Mit dem Gehabe eines Zeremonienmeisters drehte er die Flügel des Schlüssels und zog damit schnarrend den Federzug auf, der mit der Schneckentrommel verbunden war. Dann löste er einen kleinen Sperrriegel.
Ein Flügelblatt begann zu rotieren und die Walze drehte sich.
Sogleich ertönte eine liebliche Melodie – wie aus einer verkleinerten Kirchenorgel, die wie von Geisterhand spielte und bei der niemand den Blasebalg trat.
Der General schloss die Augen und schien in der Musik zu versinken.
Johann und Wolff wussten nicht, ob sie diese unglaubliche Vorführung genießen sollten oder ob dies die Begleitmelodie zu ihrer Hinrichtung war.
Nachdem die Walze sich viele Male um die eigene Achse gedreht hatte und dabei immer näher an den Federkasten gerückt war, stoppte die Melodie so abrupt, wie sie begonnen hatte.
„Stellt Euch vor, meine Herren“, rief von Daun entzückt. „Zweiundzwanzig Tonstufen, wechselbare Melodiewalzen, eine theoretisch unendliche Abfolge von Melodien. Ein Flötenspielwerk, meisterhaft von Menschenhand konstruiert. Und wozu verwenden wir diese Gabe?“ Der General verharrte erneut und überließ dem Kanonendonner die Bühne.
„Hierfür“, sagte er schließlich.
Johann und Wolff sahen sich zweifelnd an. Wen hatten sie da vor sich?
„Man riet mir, Euch noch heute Nacht exekutieren zu lassen“, fuhr von Daun fort, „und ich bin gewillt, diesem Rat nachzukommen. Allerdings“, er machte eine theatralische Pause, „möchte ich nur zu gerne wissen, wen genau ich vor seinen Schöpfer treten lasse. Immerhin wäre es ja möglich, dass Ihr nicht der Donner, sondern die Melodie seid.“
Nun war sich Johann sicher, einen Wahnsinnigen vor sich zu haben. Aber er würde das Spiel mitspielen, schließlich hatte er nichts zu verlieren. „Genau genommen“, sagte er, „können wir sowohl das eine, als auch das andere sein. Für Euch oder für die Franzosen.“
Überrascht zog der General die Augenbraue hoch. Mit solch einer Antwort hatte er nicht gerechnet.
„Wie darf ich das verstehen?“
„Wir wissen, dass ein gewisser Generalleutnant François Antoine Gamelin im Besitz einer geheimen Waffe ist, die binnen weniger Wochen die Belagerung Turins beenden und
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