Morbus Dei: Im Zeichen des Aries: Roman (German Edition)
den letzten Tagen immer wieder kurz genossen hatte, weil sie sie von der Trostlosigkeit ihres Gefängnisses abgelenkt hatte, war unvermittelt in eine bedrohliche Atmosphäre umgeschlagen.
Die Söldner hatten sich Kotzen aus grobem Leder übergeworfen, die von ihren Schultern schützend über ihre Waffen auf ihre Hüften fielen, und die Riemen ihrer Hüte unter dem Kinn festgezogen.
„Ich bin dabei“, flüsterte Alain.
Elisabeth sah ihn an. „Bist du dir sicher, dass wir es schaffen?“
„Nein.“
„Ich auch nicht. Wir wagen es dennoch.“
In diesem Moment zerriss ein gleißender Blitz die Gewitterwolken, es folgte ein markerschütternder Donner. Im Menschenkäfig begannen Kinder vor Schreck zu weinen, ihre Mütter drückten sie an sich.
Dann setzte der Regen mit einer Heftigkeit ein, als wollte der Herr eine zweite Sintflut über die Erde bringen. Am strohbedeckten Boden bildeten sich kleine Rinnsale, Elisabeth raffte ihr Kleid zusammen, um es nicht unnötig nass werden zu lassen.
Der prasselnde Lärm des Regens bot den Gefangenen aber die Möglichkeit, sich leise zu unterhalten, was sonst von den Wachen sofort mit Schlägen gegen die Gitterstäbe unterbunden wurde. Für einige Momente hatte Elisabeth das Gefühl, die Leute würden wieder zu sich selbst finden, Anteil an ihren Nächsten nehmen. Doch schon bald verebbten die Gespräche und man ergab sich erneut der rüttelnden Eintönigkeit.
„Regnet es da, wo du herkommst, auch so viel?“, fragte Elisabeth Alain.
„Ja, das Wetter in Châteaudun ist ähnlich wie hier.“ Er schwieg einen Augenblick. Als er weitersprach, klang Sehnsucht in seiner Stimme mit. „Aber wenn nach einem Gewitter die ersten Sonnenstrahlen die blauen Schindeln unseres Châteaus erleuchten, dann ist das der schönste Anblick, den es gibt.“
„Ein Château?“
„Ein großes Schloss“, erklärte Alain stolz, „das auf einem Felsen errichtet wurde und von dort oben über das Tal der Loire wacht. Vor nicht einmal zwanzig Jahren hat sogar unser König, Louis XIV, hier einen Aufenthalt verbracht. Zum wiederholten Male.“
„Na dann“, entgegnete Elisabeth wenig beeindruckt.
„Du scheinst keine Ehrfurcht vor der Obrigkeit zu kennen“, sagte Alain ärgerlich.
„Josefa hat einmal gesagt: Zum Scheißen muss sich auch ein König setzen.“
Alain stieß ein überraschtes Husten aus. Beide schwiegen für eine Weile.
„Irgendwie hast du ja recht“, sagte Alain schließlich. „Aber Respekt vor der Obrigkeit ist trotzdem die Grundlage unserer Zivilisation.“
„Mir wurde beigebracht, jeden zu respektieren, ob er nun zu Pferd oder zu Fuß kommt.“ Elisabeths Stimme wurde leiser. „Und denen zu helfen, die der Hilfe bedürfen.“
Bilder schossen ihr in den Kopf.
… Ein Klopfen an der Tür.
… Ein Streit im Haus.
… Ein Fremder, der mehr tot als lebend im Schnee lag.
Johann.
… Die Tage der Pflege.
… Die Nächte des Wachens.
… Die Beharrlichkeit eines alten Mannes.
Großvater.
Und das Unheil, das wie eine Lawine über sie und das Dorf hereingebrochen war und alles unter sich begraben hatte, was von Bedeutung war.
Ein Unheil, das sich auch über Wien ausgebreitet hatte. Elisabeth erinnerte sich an die Tage im Quarantäneviertel, an die Kranken, an das dumpfe Brüllen der Rasenden in den Kellerlöchern, das allgegenwärtig war und niemals verstummte. Sie erinnerte sich an die Männer, Frauen und Kinder in Umhängen, manche bei Tag unterwegs, andere nur in der Nacht. Und sie erinnerte sich an die schrecklichen Stunden, in denen Josefa gestorben war und die Soldaten das Viertel liquidiert hatten.
Sie konnte die Worte der Frau hören, die wie ein Geist aus dem Nebel aufgetaucht war, mit ihrem Kind in den Armen.
Habt ihr nichts gehört? Die Soldaten treiben uns zusammen wie Vieh .
Wo sind sie?
Überall .
Und dann die Flucht zum Hafen, das letzte Bild, immer das gleiche – die Kutsche mit den schwarzen Türen, die sich öffneten und sie verschlangen, die sie von Johann und ihrem Glück trennten.
Johann.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie wischte sie schnell weg und verschmierte dabei den Schmutz der Straße in ihrem Gesicht.
„Geht es dir nicht gut?“, fragte Alain.
Elisabeth schüttelte den Kopf. „Muss schön sein, wo du aufgewachsen bist“, versuchte sie abzulenken.
„Nicht nur das, die Menschen dort sind sogar noch gastfreundlicher als im übrigen Reich. Wo auch immer du herkommst, du wirst stets ein Dach über dem Kopf und einen
Weitere Kostenlose Bücher