Morbus Dei: Im Zeichen des Aries: Roman (German Edition)
Kapelle gehauen. Ein steinernes Kreuz wachte über dem Eingang und schien im Mondlicht zu leuchten.
Sophie hielt unwillkürlich den Atem an, so beeindruckend war das Bild, das sich ihr bot: die Kapelle, die aus dem schwarzen Gestein zu wachsen schien, darüber die Berge und der nächtliche Sternenhimmel. Und doch – irgendetwas an diesem Ort stimmte nicht, flößte ihr Angst ein.
„Was ist das hier?“, flüsterte sie.
„Lass uns hineingehen“, sagte Heinrich. „Dann wirst du es verstehen.“
Als ihre Augen sich an das düstere Zwielicht gewöhnt hatten, erkannte Sophie zwei kleine Bänke und einen Altar, alles aus Stein. Über dem Altar war eine Nische, sonst war die Kapelle leer, es war kein Korpus da, keine Bilder, nichts.
„Was ist das für ein Ort?“, fragte Sophie zögerlich.
Heinrich antwortete nicht. Auf dem Altar sah Sophie einen dunklen Fleck. Sie ließ ihre Finger über ihn gleiten, er war unregelmäßig und schwarz, schien sich in die Fläche eingebrannt zu haben.
Alles war Schmerz, reißender, blutroter Schmerz, sie schrie, immer und immer wieder, aber ihre Schreie gingen im Grollen des Donners und den wütenden Einschlägen der Blitze unter.
Dann war es vorbei, und plötzlich verstummten auch Donner und Blitz, als wären sie erstaunt über das kleine Bündel, das zitternd auf dem blutigen Altar lag.
Sie fasste zwischen ihre Beine und hob das Bündel hoch, und als es seine Augen öffnete und sie sah, was es war, schrie sie, unablässig, und wieder verschluckten Donner und Blitz ihre Schreie – Herr im Himmel, hilf mir, hilf uns allen …
Sophie rang nach Luft, ihr Herz pochte wie wild.
„Du hast es also auch gespürt?“ Heinrichs Stimme klang gespannt.
Sie nickte, nicht fähig zu sprechen, so intensiv war das gewesen, was sie gesehen hatte.
„Hier hat alles angefangen“, sagte er.
„Was hat hier angefangen?“ Sophies Stimme zitterte.
„Sie hat ein Kind erwartet, und niemand weiß, was sie in ihrem Zustand überhaupt in den Wäldern gemacht hat.“ Er machte eine Pause. „Dann ist sie in einen Sturm geraten, hat Schutz gesucht und ihn hier gefunden.“
Sein Blick fixierte Sophie. „Und so wurde hier, an diesem heiligen Ort, der erste von uns geboren.“
„Du meinst –“
Statt zu antworten ging Heinrich zu der Nische über dem Altar. Er griff hinein, holte etwas heraus und legte es vor Sophie hin. Es war ein Buch mit einem Einband aus abgegriffenem braunen Leder, in das kunstvolle Buchstaben geschnitten waren.
Sophie ließ ihre Finger über die Worte gleiten. „Was heißt das?“
„ Morbus Dei – die Krankheit Gottes. Die Mönche haben dieses Buch in den Katakomben geschrieben, sie wollten wohl ergründen, was es mit unserer Krankheit auf sich hat.“
„Warum die Krankheit Gottes?“
Er zuckte mit den Achseln. „Vielleicht dachten sie, dass Gott selbst die Krankheit über uns gebracht hat, um uns zu prüfen.“ Seine Stimme klang verbittert.
Vorsichtig blätterte Sophie das Buch durch, sah die erschreckenden Bilder von Jungen und Alten, Männern und Frauen in allen Entwicklungsstufen der Krankheit. Dazwischen waren immer wieder längere Abhandlungen.
„In dem Buch steht, dass diese Kapelle schon immer da war“, sagte Heinrich, „die Gründer des Dorfes haben sie einst gefunden. Niemand weiß, wer sie gebaut hat.“ Nachdenklich wanderte sein Blick über den dunklen Fleck auf dem Altar. „Ein passender Ort für den Beginn einer Prüfung, findest du nicht?“
Sophie gab ihm keine Antwort und blätterte weiter. Als sie zum Ende des Buches kam, bemerkte sie, dass die letzten Seiten herausgeschnitten waren. Sie blickte Heinrich fragend an, er schüttelte den Kopf.
„Die Seiten haben schon gefehlt, als wir das Buch im Dorf entdeckt haben.“ Er machte eine Pause. „Es lag in dem Haus, in dem wir auch ihn gefunden haben.“
Mit einem Knall klappte Sophie das Buch zu. „Wo ist er?“
„Was tut das zur Sache? Er ist tot.“
Sie trat ganz nahe vor Heinrich hin. „Wo ist Jakob Karrer?“
„Er liegt in den Wäldern. Niemand wird ihn je finden. Und das ist gut so, bei all dem Leid, dass er –“
„Leid?“, zischte sie. „Du sprichst von Leid? Wie kannst du es wagen?“
Er blickte sie ungläubig an. „Ich habe jedes Recht der Welt, von Leid zu sprechen! Wir haben jedes Recht dazu!“
Krampfhaft versuchte sie, sich zu beruhigen. „Warum hast du mich hergeführt, Heinrich? Warum bist du mir überhaupt gefolgt?“
„Ich will nicht, dass du –
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