Mord allein macht auch nicht glücklich: Ein Provinzkrimi (German Edition)
Palmer: Schraubstock
Buttermann-Verlag, Berlin 2009
480 Seiten, € 19,95
Schlechtes Gewissen
Das Mantra »Wetzstein, Axtbeil, Scherkamm« hatte Kai van Harm dann doch ziemlich schnell auf die Sprünge geholfen. Noch ehe das Notebook vollständig hochgefahren war, erinnerte er sich, dass er dereinst eine Rezension zu einem jener Bücher von Jens-Uwe Palmer geschrieben hatte, die Peggy nicht leiden konnte. Dank der Suchfunktion seines Computerbetriebssystems fand er die Rezension auch ohne Probleme in seinem prall gefüllten Archivordner. Er hatte sie Ende Juni 2009 geschrieben, also musste sie ungefähr im Sommer desselben Jahres erschienen sein, mehr als ein halbes Jahr, bevor Kai auf so niederträchtige Weise seinen Redakteursposten verloren hatte.
Eigentlich wäre er nie auf die Idee gekommen, ein derartiges Buch zu lesen. Jemanden wie Palmer ließ jemand wie Kai van Harm in der Regel links liegen. So etwas wurde ignoriert, da gab es einen gewissen Ehrenkodex unter den rezensierenden Bildungsbürgern.
Daran, dass er ausnahmsweise mit den Gepflogenheiten gebrochen hatte, war im Grunde Constanze schuld gewesen. (Bei diesem Gedanken musste er jetzt allerdings doch grinsen, denn obwohl sie schon länger als ein Jahr nicht mehr zusammenlebten, benutzte er immer noch die gleiche Universalausrede für alles, was schieflief oder schiefgelaufen war in den letzten Jahren: Constanze.) Denn auf Constanzes Nachttisch hatte eines Abends dieser Palmer-Schmöker gelegen, und als Kai sie gefragt hatte, warum sie so einen Schrott lese, hatte Constanze arglos geantwortet: »Ach, ich finde das Buch gar nicht mal so schlecht. Klar, es ist keine große Literatur, aber dafür ist es unglaublich spannend. So was braucht man manchmal eben auch.«
Nein, hatte Kai gedacht, so etwas braucht kein vernünftiger Mensch und zwar niemals, und er hatte sich das Buch gleich am nächsten Tag in die Redaktion bestellt und anschließend den Verriss geschrieben. Im Grunde, weil er eifersüchtig gewesen war auf diesen Jens-Uwe Palmer. Weil der Constanze augenscheinlich etwas bot, womit Kai bei ihr schon lange nicht mehr aufwarten konnte: mit Spannung.
Jetzt dagegen schämte sich Kai van Harm. Nicht sehr stark, aber ein klein wenig schon. Jetzt, wo er doch selber Autor war, wo er die Seiten gewechselt hatte. Er überlegte, wie er sich fühlen würde, wenn jemand über sein Buch eine derartige Rezension verfassen würde. Antwort: nicht besonders gut.
Und natürlich ahnte er auch, dass Jens-Uwe Palmers Verlag, der nunmehr zu seinem eigenen geworden war, von dieser Rezension wusste. Denn es war eher die Ausnahme als die Regel, dass Buttermann-Bücher in der sogenannten seriösen Presse besprochen wurden, zu der Kai van Harms Blatt damals, vor den Strukturanpassungsmaßnahmen, noch gehört hatte. Und so registrierten die Presseabteilungen der Schund …, das heißt natürlich – korrigierte sich van Harm schnell selbst – der erfolgreichen Mainstream-Verlage, solche seltenen Rezensionen mit hundertprozentiger Sicherheit.
Allerdings hatte Kais abfällige Besprechung dem Autor Jens-Uwe Palmer keineswegs geschadet. Ganz im Gegenteil, mittlerweile las Palmer in ausverkauften Veranstaltungshallen, in denen sonst Bands auftraten, die Fury in the Slaughterhouse hießen, wie Kai auf Palmers Wikipedia-Seite erfuhr. Für den Herbst hatte er eine Lesetournee geplant, die fast vierzig Termine umfasste. Vierzig! Und erst seine Auflagen! Ungeheuerlich! Übersetzungen in fünfzehn Sprachen! Und das nur unter seinem Namen Jens-Uwe Palmer. Tatsächlich befand sich in dem Wikipedia-Eintrag eine Liste mit sage und schreibe zwölf Pseudonymen, einem ganzen Dutzend, die von A wie »Altmaier, Jérôme« bis Z wie »Zorc, William T.« reichte. Dabei war Palmer Jahrgang ’59, das heißt er war erst zweiundfünfzig Jahre alt, sieben Jahre älter als van Harm, der 1966 das Licht der Welt erblickt hatte.
Außerdem sah Palmer auch noch gut aus. Das Fan-Foto aus dem vergangenen Jahr, das seinen Eintrag illustrierte, zeigte ihn während einer Autogrammstunde. Er lächelte sanft in die Kamera, er sah verschmitzt aus und jugendlich, trotz der Lachfältchen um die Augen. Höchstens wie Ende dreißig. So wie Kai von Leuten, die ihm wohlgesinnt war, sehr selten mal geschätzt wurde. Dabei war er sieben Jahre jünger! In Zahlen: 7!
Ob Palmer noch über volles Haar verfügte, ließ sich aber nicht erkennen, denn er trug eine dieser modischen Strickmützen, die eigentlich für die
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