Mord am Mirador (Ein Gomera-Krimi) (German Edition)
zucken. Er weinte.
Ich dachte fieberhaft nach. Was sollten wir nur machen? Es war mitten in der Nacht. In der Dunkelheit würden wir nichts erkennen können. Eine Suchaktion wäre völlig hirnrissig.
Und dann, vielleicht war ja alles in Ordnung. Vielleicht gab es für Anitas vermeintliches Verschwinden sogar eine vernünftige Erklärung.
Ich sprach es laut aus: „Vielleicht hat sie nur ein Missgeschick bei der Arbeit gehabt. Sie könnte in der Küche ausgerutscht sein und sich verletzt haben. Vielleicht liegt sie wohlversorgt im Krankenhaus und ist ein wenig traurig darüber, dass sie dich nicht benachrichtigen kann.“
„Könnte sie doch“, schniefte Carlos, „Schließlich haben wir beide Handys.“
„Ja, aber vielleicht erlauben sie ihr im Krankenhaus nicht, es zu benutzen.“
Carlos hob jetzt seinen Kopf und sah mich an. Ein Hoffnungsfunken flackerte in seinen dunklen Augen.
„Ich schlage Folgendes vor:“, sagte ich, „Wir legen uns jetzt schlafen. Ich habe ein Bett für dich in meinem Gästezimmer. Morgen früh fahren wir als Erstes nach San Sebastian in das Krankenhaus. Da kannst du deinen Arm noch einmal versorgen lassen. Es würde sicher nicht schaden, ihn sicherheitshalber röntgen zu lassen. Und wir werden bestimmt Anita dort antreffen. Es wird sich alles aufklären, du wirst es sehen.“
Carlos nickte stumm und wischte sich mit einen Ärmel über seine feuchten Augen.
Ich sprang auf, räumte die Lebensmittel schnell weg und machte das Bett für ihn zurecht.
Etwa eine halbe Stunde später war es in meinem Haus dunkel und still.
Ich war physisch todmüde, geradezu erschlagen. Aber mein Geist war hellwach.
Wo war Anita? Dunkle Ahnungen erfüllten mich.
Ich warf mich in den verbleibenden Nachtstunden von der einen Seite auf die andere. Erst als ein Vogel vor meinem Fenster sang, und das Tageslicht dämmerte, fiel ich in einen unruhigen, fieberähnlichen Schlaf.
Kapitel 10
Ich wurde davon wach, dass ich das seltsame Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Ich lag zunächst mit geschlossenen Augen da und bekam eine Gänsehaut, als ich deutlich hörte, wie neben meinem Bett regelmäßige Atemzüge gingen.
Als ich meine Augen plötzlich aufschlug, machte mein Herz einen Freudensprung. Ich blickte in Anitas Gesicht.
Dann krampfte es sich sofort zusammen, als die Erinnerung zurückströmte.
Das war nicht Anitas Gesicht, es war das ihres Bruders Carlos, der ihr so ähnlich sah.
Anita war seit gestern verschwunden.
Carlos blickte vorwurfsvoll auf mich hinab. „Ich dachte, wir fahren heute nach San Sebastian.“
„Ja“, sagte ich schlaftrunken, „Ja, Carlos, machen wir auch. Gib mir bitte zwei Minuten, zum wach werden, ja? Nimm dir etwas zum Frühstück aus dem Kühlschrank. Ich bin gleich bei dir.“
Als er verschwunden war stöhnte ich und presste meine Hände auf die Augen.
Ich hatte Angst vor dem Tag der vor mir lag, eine Höllenangst. Was würde er bringen?
Mit Sicherheit nichts Gutes. Es würde verdammt schwer werden, meine schlimmen Befürchtungen vor Carlos zu verbergen. Der Glückliche wusste nichts von den seltsamen Vorkommnissen am Mirador und von den gespenstischen Krankenwagen, die dort nachts kamen und gingen.
Ich raffte mich mit schwerem Herzen auf, zog mich mechanisch an und gesellte mich zu ihm am Küchentisch. Mit dem gesunden Appetit der Jugend war er gerade dabei, eine dicke Scheibe Brot mit Schinken zu verschlingen.
Ich nahm eine Scheibe Brot aus dem Korb, warf sie aber wieder zurück. Stattdessen braute ich mir einen starken deutschen Kaffee. Meine Mutter versorgte mich damit in Carepaketen aus Münster. Ich kippte das Gebräu brühheiß hinunter, stellte den Becher in die Spüle und griff nach meinem Autoschlüssel.
„Also dann, Sportsfreund, wir starten in fünf Minuten“, sagte ich und ging hinaus vor die Tür. Der Himmel war schon tiefblau und die Sonne schien gerade hinter der Blütendolde der Agave, die an meinem Zaun wuchs. Sie leuchtete weißer denn je, als wäre sie eigentlich eine kostbar geschmiedete Lampe. Der Tau glitzerte auf dem Gras unter meinem Mandelbaum und es duftete nach den Blüten, die darauf wie blassrosa Tropfen hingen. Die Ziegen meckerten im Stall, und ich ging und trieb sie hinaus. Kaum waren sie im Freien, da beugten sie ihre gehörnten Köpfe und begannen genussvoll das feuchte Gras zu rupfen.
Es könnte alles so schön sein, so perfekt, dachte ich, wenn nicht diese dunkle schwere Decke auf mir liegen würde und mich auf
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