Mord am Oxford-Kanal
blaue Billett, der Titel lautet: Das blaue
Billett», fuhr Greenaway fort.
«Wie bitte?» fragte Morse
irritiert zurück.
«Der Titel, den Sie eben
genannt haben, stimmte nicht. Das Buch heißt Das blaue Billett.»
«Habe ich tatsächlich eben
einen falschen Titel gesagt? Na, egal, ich weiß sowieso nicht, warum ich es
eigentlich lese.»
«Aus demselben Grund, aus dem
ich es gelesen habe, nehme ich an», sagte Mr. Greenaway und lächelte wissend.
«Weil Sie hofften, alle paar Seiten gäbe es etwas Sex.»
Morse nickte. Er gab sich
geschlagen.
«Was den Sex angeht, ist es
eine Enttäuschung», fuhr Greenaway mit der ihm eigenen, fürchterlich lauten
Stimme ungerührt fort, «meine Tochter hat es mir auf gut Glück mitgebracht.»
«War das gestern abend Ihre
Tochter?»
Der andere nickte. «Sie
arbeitet, seit sie achtzehn ist, als Bibliothekarin. Das sind jetzt auch schon
wieder zwölf Jahre. Die letzten sechs war sie bei der Bodleian beschäftigt.»
Morse hörte sich geduldig die
von Greenaway schon mehr als einmal zitierten statistischen Angaben über die
kilometerlangen Reihen von Bücherregalen in den labyrinthischen Magazinen in
den Kellern der Bodleian Library an und erfuhr weitere Details aus dem Leben
seiner Tochter, bis schließlich die Reinemachefrauen eintrafen. Sie schoben
Morses und Greenaways Betten unsanft auseinander und beendeten die
Unterhaltung.
Gegen halb zwei, nach einem
mehr als spärlichen Mittagessen, wurde Morse eröffnet, daß er sich am
Nachmittag weiteren Untersuchungen außerhalb der Station zu unterziehen habe
und er zu diesem Zweck für ein paar Stunden von seiner Kochsalzinfusion befreit
werde. Als der Pfleger ihn abholte, um ihn mittels eines Rollstuhls zu den
anderen Abteilungen zu fahren, hatte Morse das Gefühl, daß er wieder mindestens
zwei Stufen höher geklettert war auf der Leiter, die irgendwann hoffentlich zur
völligen Gesundung führen würde.
Erst gegen halb vier war er
wieder auf der Station — erschöpft, gereizt und sehr, sehr durstig, wobei der
Durst das größte Übel war. Nessie hatte ihm noch, kurz vor Ende ihrer Schicht,
schweigend und recht unsanft, nichtsdestoweniger geschickt, einen neuen Tropf
angeschlossen. Eigentlich hätte er Lust gehabt, sich jetzt mit Steve Mingellas
weiteren Abenteuern zu beschäftigen, aber er spürte Greenaways Blick auf sich
ruhen, und so ließ er es bleiben. Statt Violet erschien kurz darauf eine kleine
Frau mit verkniffenem Gesicht und füllte gerade so viel Suppe in Morses
Schüssel, daß der Boden bedeckt war. Jetzt war ihm die Laune endgültig
verdorben. Nicht einmal die Aussicht auf einen Besuch von Lewis bot Trost, denn
dieser hatte sich für heute entschuldigt, er wolle mit seiner Frau ausgehen. Um
fünf nach sieben stülpte sich Morse frustriert die Ohrhörer über, um wenigstens
seine geliebten «Archers» zu hören, gegen zwanzig nach sieben entschied er,
sich nun endlich dem magnus opus des Wilfrid M. Deniston zu widmen.
Gegen halb acht war er so darin vertieft, daß er erst, nachdem er Teil 1 zu
Ende gelesen hatte, bemerkte, daß Walter Greenaways Tochter inzwischen am Bett
ihres Vaters Platz genommen hatte.
Kapitel
7
MORD
AM OXFORD-KANAL
© 1978 Wilfrid M. Deniston,
OBE, MC, Jeder Nachdruck, auch auszugsweise, bedarf des schriftlichen
Einverständnisses des Herausgebers.
Der Autor dankt für die Hilfe,
die ihm von allen Seiten in großzügiger Weise zuteil geworden ist, vor allem
aber der Bodleian Library, Oxford. Wertvolle Unterstützung waren auch die Proceedings
of the North Oxford Local History Society und die Court Registers of
the City of Oxford Assizes, 1859 und 1860.
Weitere Einzelheiten über die
auf den folgenden Seiten erwähnten Prozesse finden sich in den folgenden
Ausgaben von Jacksons Oxford Journal vom 20. und 27. August 1859 sowie
in zwei weiteren Ausgaben derselben Zeitschrift vom 15. und 22. April 1860.
TEIL
EINS - EINE LASTERHAFTE BESATZUNG
Jene, die die Nebenstraßen
unserer großen oder auch kleinen Städte zu erforschen suchen, stolpern
bisweilen (und manchmal buchstäblich) auf alten Friedhöfen über versteckt
liegende und halb zerfallene Grabsteine. Die Friedhöfe selbst hegen meist
völlig abgesondert von der Kirche, zu der sie ursprünglich einmal gehört haben,
und meistens entdeckt man sie nur zufällig hinter mannshohen roten
Backsteinmauern oder eingezwängt zwischen Mietshäuser — ungepflegt, schweigend,
vergessen. Einer dieser
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