Mord am Oxford-Kanal
vergessenen Friedhöfe befand sich bis noch vor wenigen
Jahren am unteren Ende jener hübschen kleinen Straße in Nordoxford, die heute
Middle Way heißt und South Parade mit seiner Vielzahl kleiner Läden mit
Squitchey Lane, der eleganten Villenstraße, verbindet. Doch Anfang der
Sechziger wurden die meisten Grabsteine, die in unregelmäßigen Reihen auf dem Friedhof
der Gemeinde Summertown (so lautete der offizielle Name) gestanden hatten,
entfernt, um den potentiellen Besitzern von Eigentumswohnungen, die dort in der
Gegend gebaut werden sollten, eine angenehmere, nicht ganz so melancholische
Aussicht zu gewähren. Zwar blieben die alten Grabstätten an sich erhalten, doch
nach 1963 war es niemandem mehr möglich, ein bestimmte Grab ausfindig zu
machen.
Einige wenige Grabsteine
allerdings hat man zu erhalten versucht, sie stehen auch noch heute. Man findet
sie am nördlichen Rand des Friedhofs, insgesamt mögen es kaum mehr als ein
Zehntel der ursprünglich um die Mitte des 19. Jahrhunderts aufgestellten Steine
sein. Einer dieser Steine, ein moosbedecktes Mal aus Kalkstein, von der
verkehrsreichen Straße aus gesehen der drittletzte Stein von hinten, trägt eine
Inschrift, die von einem geübten Auge auch heute möglicherweise noch entziffert
werden kann, obwohl man jedem, der den Wunsch hat, dies zu tun, zur Eile raten
muß, da der Stein mehr und mehr verwittert.
Hinter dieser anrührenden und
ungewöhnlich ausführlichen Grabinschrift verbirgt sich eine Geschichte von
ungezügelter Begierde und trunkener Wollust, die Geschichte auch einer
unglücklichen und hilflosen jungen Frau, die sich vor rund einhundertfünfzig
Jahren während einer für sie grauenvollen Reise auf Gnade und Ungnade einer
höchst brutalen und ungezügelten Bootsmannschaft ausgesetzt sah. Der Verlauf
dieser Reise ist Thema des hier vorliegenden Berichts.
Joanna Franks stammte
ursprünglich aus Derby. Ihr Vater, Daniel Carrick, war als Versicherungsagent
bei der Nottinghamshire and Midlands Friendly Society beschäftigt und scheint
während eines Großteils seiner Zeit als Familienvater ein wohlhabender und
angesehener Bürger gewesen zu sein. Im späteren Leben — mit Sicherheit in den
Jahren unmittelbar vor dem tragischen Tod seiner einzigen Tochter — (es gab
noch einen jüngeren Bruder namens Daniel) machte er harte Zeiten durch.
Joannas erster Ehemann war ein
gewisser F. T. Donavan, dessen Familie aus der Grafschaft Meath stammte. Ein
Zeitgenosse beschreibt ihn als «Ire mit vielen Talenten», und da er ein
großgewachsener, breitschultriger Mann war, erstaunt es uns nicht zu erfahren,
ja ist es beinah vorherzusehen, daß sein Spitzname «Hefty» * lautete. Von Beruf war er Zauberkünstler, d. h., vielleicht
wäre es richtiger zu sagen, daß dies einer seiner vielen Berufe war. Er
trat in Theatern und Varietés auf, und zwar sowohl in London als auch in der
Provinz. Um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu lenken, hatte er
zu irgendeinem, heute nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt den großspurigen
Titel «Kaiser aller Illusionskünstler» angenommen und auf eigene Kosten
Handzettel drucken lassen, von denen uns einer, auf dem er im September 1856
für sein Auftreten im Varieté-Theater in Nottingham warb, noch heute erhalten ist.
MR.
DONAVAN, Bürger der Welt und Sohn Irlands, teilt hiermit allen Angehörigen des
hohen und niederen Adels, der Gentry sowie den Bürgern der Stadt Nottingham
respektvoll mit, daß ihm in Anbetracht seiner überlegenen und unvergleichlichen
Künste in MAGIE UND TÄUSCHUNG vom höchsten Ausschuß der Versammlung der
weitbesten Zauberkünstler im vergangenen Jahr der Titel KAISER ALLER
ILLUSIONSKÜNSTLER verliehen worden ist, welchen Titel er insbesondere für das
staunenswerte Kunststück erhielt, einem Hahn den Kopf abzuschneiden und dem
Tier anschließend wieder zu seiner ursprünglichen Belebtheit zu verhelfen.
Dieser selbe Donavan, größter Zauberkünstler der Welt, war es auch, verehrtes
Publikum, der in der letzten Woche seine Zuschauer in Croydon auf das
spannendste unterhielt, indem er sich für genau elf Minuten und fünfundvierzig
Sekunden, wie mittels eines wissenschaftlichen Chronometers unabweisbar
festgestellt wurde, völlig gefesselt in ein Bad mit ätzender Säure legte.
Drei Jahre zuvor hatte Donavan
ein Buch geschrieben mit dem Titel Umfassendes Handbuch der Zauberkunst. Es war sogar verlegt worden. Doch den Zenit seiner Karriere hatte er
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