Mord an der Leine
die
Lichtkuppel über der Niedersachsenmetropole sehen. Wie eine Glocke hing der
rötlich gefärbte Schein über dem fern wirkenden Horizont, während es immer
schwieriger wurde, auf dem Platz vor der Freitreppe etwas zu erkennen.
Vorsichtig lugte sie um die Ecke. Von Wedell war nur noch als dunkler Schatten
erkennbar, der nervös vor dem Eingang des Convention Centers auf und ab
wanderte.
Es war das Ausharren, das geduldige Warten auf ein
ungewisses Ereignis, das von Außenstehenden bei der Tätigkeit eines
Polizeibeamten im Zuge einer Observation unterschätzt wurde. Auch wenn es lange
dauerte, durfte die Konzentration nicht nachlassen. Aber der Anspruch war
einfacher gestellt als in der Praxis durchgeführt. Wieder und immer wieder
versuchte sie, die Dunkelheit zu durchdringen. Es war kaum etwas zu sehen.
Vielleicht, so überlegte sie, wäre es doch sinnvoll gewesen, das SEK einzuschalten. Die Beamten waren
technisch besser ausgerüstet und auf solche Situationen eingestellt. Mit einem
Nachtsichtgerät hätte man das Areal besser überwachen können. Andererseits
hatte Richter recht. Es ging schließlich nur um das Treffen mit einem offenbar
harmlosen Informanten. Und kein Einsatzleiter machte sich gern lächerlich,
indem er bei einfachen Einsätzen das große Arsenal anforderte und damit auch
ein wenig eigene Unvollkommenheit offenbarte. Sie selbst hätte in Flensburg,
als die Einsatzleitung ausschließlich bei ihr lag, auch nicht anders
entschieden.
Erneut sah sie auf die Uhr. Der Minutenzeiger schien
festgewachsen zu sein. Es waren erst vier Minuten vergangen, seitdem sie das
letzte Mal die Zeit kontrolliert hatte. Langsam stieg die feuchte Kälte hoch,
und sie begann zu frösteln. Ihre Kleidung war nicht regendicht und inzwischen
völlig durchnässt. Sicher spielte auch die unruhige vergangene Nacht, in der
sie in der ungewohnten Umgebung immer wieder wach geworden war, eine Rolle. Sie
bewegte vorsichtig ihre Füße und trat auf der Stelle. Dann schlug sie die Arme
um den Oberkörper.
»Welcher Trottel macht so einen Lärm?«, hörte sie
Richters Stimme im Ohrhörer. »Stillhalten. Das rauscht wie verrückt im Netz.«
Abrupt stoppte sie die Bewegung. Das Schlagen der Arme
am Oberkörper musste bei den anderen durch das angeheftete Mikrofon wie ein
Gewitter geklungen haben. Ich habe mich im Stillen über die manchmal unbeholfen
wirkende Art des jungen von Wedell amüsiert, dachte Frauke. Und nun verhalte
ich mich selbst wie ein undisziplinierter Anfänger. Auch die nervöse Anspannung
durch das unausgeglichene Verhältnis zu den Kollegen und die aus ihrer Sicht
unfreundliche Aufnahme bei der Hannoveraner Kripo sollten keine Entschuldigung
für ihr Verhalten sein. Sie beugte sich vor und blinzelte über den Rand der mit
Regentropfen übersäten Brille hinweg um die Ecke. Nichts war zu sehen. Dafür
wurde sie mit einem neuen Guss vom Dach bestraft. Sie unterdrückte einen Fluch
und versuchte, sich die Feuchtigkeit mit einem Papiertaschentuch vom Gesicht
und aus dem Kragen zu tupfen. Mit einem weiteren Tuch putzte sie ihre Brille.
Doch davon wurde die Sicht nicht besser. Jetzt waren Schlieren auf den
Augengläsern.
Dann begann sie still zu zählen. Immer wieder von
einundzwanzig bis dreißig. Nach jedem Durchgang streckte sie einen Finger der
rechten Hand in die Länge. Nach sechs Durchgängen, was ungefähr einer Minute
entsprach, einen Finger der linken Hand. Die Zeit dehnte sich endlos. Man
glaubt nicht, wie lang eine Minute sein kann. Wie grauenvoll mag es sein, wenn
Menschen in einem abstürzenden Flugzeug sitzen? Es dauert Minuten, bis die
Maschine am Boden zerschellt. Wie unendlich lang mag dieser grauenhafte
Augenblick der Erkenntnis sein?, schoss es ihr durch den Kopf. Konzentriere
dich, kam ein anderer Gedanke dazwischen. Solche Fragen gehören nicht an diesen
Ort. Sie begann gerade, die neunte Minute anzuzählen, als sie ganz leise Lars
von Wedell im Ohrhörer vernahm.
»Ich glaube, da kommt jemand.« Die Stimme klang
aufgeregt.
»Ruhe, ich sehe ihn auch«, zischte Richter dazwischen.
Frauke versuchte, etwas zu erkennen, doch sie sah nur
den Schattenriss von Wedells, der seine unruhige Wanderung unterbrochen hatte.
Für einen Moment herrschte Schweigen im Ohrhörer. Frauke schien, als würde sie
ganz schwach von Wedells unruhigen Atem vernehmen. Angespannt lauschte sie.
Außer dem monotonen Rauschen der Straße in ihrem Rücken war nichts zu hören.
Sie wagte es nicht, weiter an den Rand der
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