Mord an der Leine
Eisverkäufer, Zeitungsstände, rollende
Werbung von Ausstellern und Stellwände und Plakate verliehen dem Areal ein
buntes Aussehen. Jetzt war eine Baustelle an der Hallenecke, an der man sich
nicht einmal die Mühe gemacht hatte, sie abzusperren, der einzige Blickfang.
Ein Minibagger stand neben dem Erdaushub vor einem Loch. Frauke konnte nicht
erkennen, nach welchem Schatz man dort grub.
Madsack hatte in der Teambesprechung einen Plan des
Messegeländes besorgt, und sie hatten gemeinsam festgelegt, an welcher Stelle
jeder Position beziehen sollte.
Madsacks Überlegungen, weitere Beamte der Einsatzbereitschaft
oder des SEK s anzufordern, hatte
Richter zurückgewiesen.
»Wir machen uns lächerlich, Nathan, wenn wir mit einer
Hundertschaft aufziehen und alles war ein Dummejungenstreich. Wir haben es hier
nicht mit einer gewalttätigen Bande zu tun, sondern mit einem Informanten, der
– aus welchem Grund auch immer – diesen ungewöhnlichen Ort gewählt hat.«
»Aber es muss doch einen Grund dafür geben«,
hatte Madsack noch einmal einzuwenden versucht. Aber Richter hatte sich nicht
beirren lassen.
Der Platz am Fuß der großen Freitreppe lag verlassen.
Das runde Convention Center schwebte förmlich auf filigranen Stelzen über dem
Eingang, den der Anrufer zum Treffpunkt bestimmt hatte. So entzog er sich auch
Fraukes direktem Blick. Das Areal wurde auf der gegenüberliegenden Seite durch
die Hallen 14 und 15 begrenzt, während ein weiteres Gebäude auf dem Platz, das
mit seiner einfallsreichen Architektur aussah, als wäre es seitlich verrutscht,
und dem schiefen Turm von Pisa überdeutlich Konkurrenz machte, ihr die freie
Sicht versperrte.
Madsack hatte sich Schlüssel für eines der Tore
besorgt, durch die Lieferanten auf das Messegelände fuhren. Die beiden
Dienstwagen hatten sie auf Richters Geheiß ein wenig abseits im Schatten der
Halle 12 geparkt.
Frauke drückte sich dichter an die Hallenwand, als ihr
zwei dicke Tropfen vom Dachüberstand ins Gesicht klatschten. Mit dem Handrücken
wischte sie die Feuchtigkeit weg und unterdrückte einen leisen Fluch. Dann
versuchte sie die Dunkelheit zu durchdringen. Sie nahm ihre Brille ab, auf der
sich der feine Sprühregen niederschlug und sie in der ohnehin mageren Sicht
behinderte. Ohne Brille, stellte sie resignierend fest, konnte sie auch nicht
besser sehen. Du wirst langsam alt, durchzuckte sie ein Gedanke voller
Bitternis. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war sechs Minuten nach
neun Uhr abends. Seit über zwanzig Minuten harrte sie schon in dieser Position
aus.
»Alles klar bei euch?«, vernahm sie Richters Stimme
aus dem Ohrhörer. Nachdem sich die anderen drei mit einem »Ja« gemeldet hatten,
wisperte auch sie ein gehauchtes »Alles okay« in das kleine Mikrofon, das am
Kragen ihrer durchnässten Jacke befestigt war.
»Ist schon etwas zu sehen, Lars?«, wandte sich Richter
an den jungen Kommissar, der vor dem Eingang des Convention Centers auf und ab
ging und gelegentlich aus dem Schatten auftauchte, wenn er in Richtung des
»schiefen« Gebäudes schlenderte.
»Nichts.«
»Gut. Sofort melden, wenn jemand etwas sieht.
Verstanden?«
Wieder kamen leise »Ja« übers Mikrofon.
»Sie auch, Frau Dobermann?«, sprach Richter sie direkt
an, nachdem sie nicht geantwortet hatte.
»Die ist etwas Besseres. Warum soll die sich an die
Disziplin halten?«, war Putensenf über den Ohrhörer zu vernehmen.
»Jakob, halt die Klappe!«, schalt ihn Richter, während
Frauke ein »Ja« ins Mikrofon schickte. Dann herrschte wieder Schweigen. Es war
nur das Rauschen der Autos auf der B 6, dem Messeschnellweg, zu hören,
der gleich hinter den Hallen entlangführte. Deutlich vernahm man das typische
Geräusch, wenn Autos über nassen Asphalt brausen. Sonst war Stille. Merkwürdig,
dachte Frauke. Wie oft sehnen sich die Menschen nach der Stille, wenn sie Tag
und Nacht dem Geräuschpegel der Stadt ausgesetzt waren. Verglichen mit
Flensburg schien ihr Hannover laut und von einer steten Betriebsamkeit erfüllt.
Überall war etwas zu hören. Auch nachts, lange nach Mitternacht, schien die
Stadt nicht zu schlafen. Selbst durch die geschlossenen Fenster ihres
Hotelzimmers drang der Puls Hannovers. Und jetzt, wo neben dem Rauschen der
fernen Straße nur das Plätschern des Regens zu vernehmen war, lauschte sie
gebannt in die dunkle Nacht. Auch das leiseste Geräusch hätte einen Teil ihrer
Anspannung abgebaut. Doch es blieb ruhig. Von ihrem Standort aus konnte sie
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