Mord an der Leine
Treppe heranzutreten. Es bestand die
Gefahr, dass sich ihre Silhouette gegen den Nachthimmel abhob und dem
erwarteten Besucher ihre Position verriet. Dann geschah minutenlang nichts. Der
Ohrhörer war tot, und zu sehen war auch nichts. Wäre sie Einsatzleiterin
gewesen, hätte sie längst abgefragt, ob von Wedells Vermutung, es komme jemand,
vielleicht ein Irrtum gewesen war. Aber Richter hatte es auch gesehen.
Frauke zuckte zusammen, als urplötzlich ein Schuss durch
die Stille hallte. Das Echo schien sich an den Fassaden der Hallen zu brechen,
und die angespannten Sinne gaukelten ihr vor, dass der Knall durch den gesamten
Innenhof rollte.
»Verdammt. Was war das?«, rief Richter.
»Der schießt auf mich«, antwortete von Wedell
aufgeregt.
»Lage!«, schrie Richter dazwischen. »Ich will eine
Lage!«
»Nichts. Ich sehe nichts«, hörte Frauke Madsack,
dessen Stimme durch Putensenf überlagert wurde.
»Scheiße«, knurrte der Kriminalhauptmeister.
»Negativ«, sagte auch Frauke. Dann tauchte vor der
Fassade der Halle 14 ein Schatten auf, der die Expo-Allee mit ihrem breiten
Grünstreifen in der Mitte überquerte und in Richtung Eingang Süd 1 lief. Kurz
darauf sah sie eine zweite dunkle Gestalt, die hinterherlief.
Noch einmal knallte es.
»Wer schießt dort?«, keuchte Richter, um dann erneut
zu brüllen: »Lage!«
Frauke hielt es nicht länger auf ihrem Posten. Sie
verfluchte die unbewegliche Verwaltung, die es immer noch nicht zustande
gebracht hatte, ihr eine Dienstwaffe zu beschaffen. Sie rannte die breite
Freitreppe hinab. Offensichtlich entfernte sich der Täter. Der zweite Schatten
musste von Wedell gewesen sein, der den Schützen verfolgte. Sie nahm mehrere
Stufen auf einmal, kam ins Stolpern, fing sich wieder und hastete weiter. Als
sie auf dem Platz vor dem Convention Center angekommen war, konnte sie
niemanden entdecken. Sie lief den beiden Gestalten hinterher.
Noch einmal durchschnitt der peitschende Knall eines
Schusses die Dunkelheit. Frauke stockte mitten im Lauf. Es schien ganz in ihrer
Nähe gewesen zu sein, obwohl sie nicht den Eindruck hatte, dass man auf sie
schoss. Dann wurde erneut geschossen. Zwei Mal kurz hintereinander.
»Was ist da los?«, brüllte Richter atemlos. »Verflixt!
Ich möchte eine Lage!«
Niemand antwortete.
Sie rannte nicht mehr, sondern ging geduckt weiter.
Nichts war zu sehen. Sie hatte jetzt den Rand des kleinen Platzes erreicht und
umrundete vorsichtig die Baustelle mit dem Minibagger, als sie in eine große
Pfütze trat. Das Wasser schwappte in ihre Schuhe und durchnässte in
Sekundenschnelle die Füße. Dann hielt sie abrupt inne. Neben dem kleinen Hügel
mit Aushub, den der Bagger aus dem Erdloch herausgeholt hatte, lag eine
Gestalt. Sie warf noch einen Blick in die Runde, dann kniete sie sich neben den
Mann nieder. Ein eisiger Schreck durchfuhr sie, als sie Lars von Wedell
erkannte. Der junge Kommissar lag auf dem Bauch, einen Arm weit nach vorn
gestreckt, den anderen vor dem Gesicht, als wollte er sich schützen. Die Beine
waren leicht gespreizt, der linke Fuß verdreht. Von Wedell musste im vollen
Lauf niedergestreckt worden sein.
Frauke legte zwei Finger an seine Halsschlagader. Sie
vernahm ein schwaches Pulsieren. Lars von Wedell lebte noch. »Schnell! Beim
Bagger! Lars ist verletzt! Wir brauchen Hilfe! Einen Notarzt!«, rief sie ins
Mikrofon.
»Ich komme«, keuchte Madsack.
Während Frauke vorsichtig versuchte, sich ein Bild von
der Art der Verletzung zu machen, hörte sie eine Weile später über den Kopfhörer,
wie Putensenf offensichtlich per Handy den Rettungsdienst alarmierte.
Im Unterbewusstsein vernahm sie Richters sich
überschlagende Stimme. »Bleib stehen! Polizei!«, rief der Hauptkommissar in
abgehackten Wortfetzen. Dann waren wieder Schüsse zu hören. Drei Mal. Sie
vernahm am Klang, dass es zwei unterschiedliche Waffen waren. Irgendwo in der
Nähe fand ein Feuergefecht statt.
»Ich brauche Unterstützung«, rief Richter. »Hier.
Richtung Eingang Süd. Kronsbergstraße. Ich verfolge bewaffneten Täter. Vorsicht.
Schusswaffengebrauch.«
»Halt ihn fest. Bin unterwegs«, rief Putensenf.
Lars von Wedell lag reglos, den Kopf seitlich in der
Pfütze. Frauke sah, dass Mund und Nase oberhalb des flachen Wasserspiegels
lagen. Mit dem Display ihres Handys leuchtete sie zunächst auf den Kopf. Der
junge Kommissar hatte das sichtbare Auge geöffnet, während das zweite im Wasser
lag. Es schien, als würde er Frauke fragend anblicken.
»Ganz
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