Mord an der Mauer
kommt.«
Besonders zynisch ist ein Radiokommentar des SED-Propagandisten Karl-Eduard von Schnitzler. Diebe, Polizistenmörder und Agenten würden sich in der DDR verständlicherweise nicht wohlfühlen und die westliche Freiheit vorziehen. »Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um«, leitet er auf Fechter über. »Und wenn solch ein Element bei einem gewaltsamen bewaffneten Grenzdurchbruch unmittelbar an der Grenze verwundet und nicht sofort geborgen wird, dann ist das Geschrei groß.« Mit Verweis auf die ums Leben gekommenen DDR-Grenzposten schließt Schnitzler: »Ich möchte ganz unmissverständlich feststellen: Das Leben eines unserer tapferen Jungen in Uniform ist mehr wert als von einem Dutzend Krimineller. Soll man von unserer Staatsgrenze wegbleiben, dann kann man sich Blut, Tränen und Geschrei sparen.« Einen Teil des Kommentars baut er in seine TV-Sendung Der schwarze Kanal ein, die am 27. August ausgestrahlt wird – an dem Tag, als in Ost-Berlin Peter Fechter und in Westdeutschland der wenig später auf der Flucht erschossene Transportpolizist Hans-Dieter Wesa beerdigt werden.
Die Proteste in West-Berlin sind gleichfalls ein willkommener Anlass für die DDR-Ideologen, sich selbst als Opfer von Provokationen und den Regierenden Bürgermeister als deren Initiator darzustellen. Wiederum in der Berliner Zeitung heißt es etwa: »Mob der Ultras terrorisiert die West-Berliner. Banden randalieren Tag und Nacht. Bevölkerung von Angst ergriffen. Brandt kündigt Notstandsdiktatur an«. Die BZ am Abend polemisiert: »Von Brandt aufgeputschter Mob provozierte«. Und im Neuen Deutschland ist am 21. August zu lesen: »In West-Berlin herrscht das Chaos. Die politische Unterwelt ergreift Besitz von der Straße. Die Frontstadt, durch unseren antifaschistischen Schutzwall isoliert, beginnt in ihrem eigenen Gift zu ersticken.«
Die These der »inszenierten Provokation« wird auch in einem Ermittlungsbericht über den Todesfall Fechter vertreten, der am 18. August verfasst wird und auf dem Tisch von SED-Sicherheitschef Erich Honecker landet. Unfreiwillig zeigt der Bericht zugleich, dass eher Desorganisation auf Ost-Berliner Seite der Grund für die Zuspitzung der Situation gewesen ist. Mehrere Mängel werden aufgezählt, die künftig zu vermeiden seien: Es habe ein Offizier im Grenzabschnitt gefehlt, der Maßnahmen zur Bergung hätte einleiten können. Außerdem habe der Rettungswagen an einer für Zivilisten einsehbaren Stelle geparkt, sodass DDR-Bürger den Abtransport sehen und »über den ganzen Vorfall in äußerst negativer Form diskutieren« konnten. Schließlich sollten unbedingt Möglichkeiten geschaffen werden, Verletzte schnell aus dem unmittelbaren Grenzgebiet zu entfernen – allerdings nicht aus humanitären Gründen, sondern »um dem Gegner keine Argumente für seine Hetze zu liefern«. Tatsächlich wird am 23. August befohlen, entlang der Grenze ständig Krankenwagen bereitzuhalten. Eine weitere Reaktion: Die Bewohner der Zimmerstraße Nr. 70, die Zeugen der Schüsse auf Fechter waren, müssen ihre Wohnungen zwangsweise räumen. Das Haus wird gesprengt.
Renate Pietsch und Wolf-Dieter Zupke gehen dagegen wieder ganz normal zur Arbeit. Die Betriebsleitung ist über ihre Verhaftung informiert, das »Vorkommnis« wird in der Personalakte vermerkt. Zupke habe zu Pietschs abfälligen Bemerkungen genickt, heißt es da, und sei deshalb verhaftet worden. »Trotz dieses Vorkommnisses« dürfe er »weiterhin in unserem Betrieb beschäftigt werden. Verwarnung ist durch die staatlichen Dienststellen und den Werksleiter erfolgt.«
Die Eltern Fechter müssen weitere Befragungen über sich ergehen lassen. Ihnen wird untersagt, den gewaltsamen Tod ihres Sohnes in irgendeiner Weise zu thematisieren. Zudem erhalten sie klare Vorgaben für die Beerdigung auf dem Friedhof der Auferstehungsgemeinde in Weißensee. Eine Todesanzeige ist unerwünscht, ebenso eine Bekanntgabe des Termins oder eine kirchliche Trauerfeier. Sprechen soll ein bei der städtischen Friedhofsverwaltung angestellter Redner, ein Herr Kärstens. Mit diesen Vorgaben geht Margarete Fechter zum Bestattungsunternehmen Kadach & Maurer, einem Familienbetrieb, den Elsa Kadach leitet. Ihre Enkelin Monika ist im Geschäft, als Frau Fechter den Laden betritt. Die 22-Jährige hat wie ihre Großmutter von Peters gewaltsamem Tod gehört. Margarete Fechter wird von einem unbekannten Mann begleitet, der sie wohl kontrollieren soll, mutmaßen die beiden
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