Mord an der Mauer
Bestatterinnen. Peters Mutter ist zurückhaltend und vorsichtig, redet nur über die Abwicklung der Beerdigung, während ihr Begleiter aufmerksam zuhört. Margarete Fechter entscheidet sich für einen dunklen Grabstein, auf dem in Gold ein Kreuz, der Name und die Lebensdaten ihres Sohnes zu lesen sein sollen – sowie zwei weitere Worte: »Allen unvergessen«.
Vergessen dagegen will Helmut Kulbeik. Er ist in der Einzimmerwohnung seiner Großmutter in Wedding untergekommen. Am 21. August schildert er der West-Berliner Polizei seine familiären Verhältnisse und beschreibt detailliert den Ablauf der Flucht mit Peter Fechter. Das viereinhalbseitige Protokoll endet mit der Bitte: »Mit der Presse will ich nichts zu tun haben.« Kulbeiks Eltern in Friedrichshain sind inzwischen über eine Deckanschrift informiert. Helmut hat an Bekannte geschrieben, die nur zehn Minuten entfernt von ihnen wohnen, weil er befürchtet, dass Briefe an seine Eltern abgefangen und gelesen werden, vielleicht »verschwinden« könnten.
Am 27. August 1962 findet um die Mittagszeit und bei Sonnenschein die Beisetzung von Peter Fechter statt. Seine Eltern, Gisela Geue mit ihrem Mann sowie die Remmerts vertreten die Familie. Die jüngere Schwester Ruth hütet zu Hause ihre siebenjährige Nichte Jutta und ihren wenige Wochen alten Neffen, Giselas Sohn. Auch die älteste Tochter der Fechters, Lieselotte Müller, fehlt. Obwohl sie in West-Berlin ein Telegramm mit dem Termin erhalten hat, geben ihr die Ost-Berliner Behörden als »Republikflüchtling« keine Einreiseerlaubnis. Am Tag der Beerdigung veröffentlicht die West-Berliner Zeitung Der Abend einen Brief ihrer Mutter aus Ost-Berlin: »Ich muss Dir mitteilen, dass Dein Bruder an der Mauer erschossen worden ist. Er war ein sehr guter Junge, und wir wären nie auf den Gedanken gekommen, dass er flüchten wollte. Du weißt, wie nahe er uns stand und was sein Tod bedeutet.«
Der Friedhof der Auferstehungsgemeinde ist von der Stasi komplett abgeriegelt, Fotografieren strengstens verboten. Zur Überraschung der Fechters sind viele Bekannte aus der Nachbarschaft und Arbeitskollegen erschienen – trotz der Präsenz der Sicherheitskräfte und des Verbots, die Beerdigung bekannt zu machen. Offenbar hat sich der Termin in Weißensee herumgesprochen. Rund 300 Menschen sind insgesamt gekommen – eine ausgesprochen große Trauergemeinde und für die Familie ein kleiner Trost. Vor allem bewegt sie, dass sich Kollegen des Vaters nicht haben einschüchtern lassen. Und Peters Kollegen schicken immerhin einen Kranz. Der ausgewählte Trauerredner Kärstens verkündet in der kleinen Kapelle eine klare politische Botschaft. Die kritische Situation Berlins gleiche einem Berg, »auf dem bestimmte Wege für uns normale Menschen gesperrt sind, obwohl wir gern einen schönen Blick von einem höher gelegenen Punkt aus genießen würden«. Aber die Behörden wüssten, dass es gefährlich sei, solche Wege zu gehen. Sie hätten zu entscheiden, welche Wege für ihre Bürger gesperrt seien, »und wir müssen ihrem Urteil vertrauen«. Peter Fechter habe das nicht getan. Den Fluchtversuch nennt der Redner unüberlegt und behauptet, Fechters Kollegen hätten versucht, ihm die wahren Zusammenhänge in diesen schwierigen Zeiten zu erklären, was ihnen aber nicht gelungen sei. Die Familie empfindet die Worte als Zumutung, lässt sich jedoch nichts anmerken. Die dargebotene Version entspricht sicher nicht ihrer Deutung des Fluchtversuchs, aber es soll die offizielle sein, dagegen können sie nichts ausrichten. Anschließend geht es in den hinteren Teil des Friedhofs, zum Garten XVI, wo an der Gartenstelle 28 das Grab ausgehoben ist. Zum Abschluss rezitiert der Trauerredner Goethe: »Über allen Gipfeln ist Ruh«.
Auf dem Rückweg kommt es zu einem Zwischenfall. Ein Unbekannter fotografiert die Familie, bittet Klaus Geue um ein Interview und bietet West-Zigaretten an. Geue lehnt ab. Der Fremde heißt Heinz Grimm, ist Bundesbürger und hat westlichen Zeitungen seine Dienste angeboten. Noch auf dem Friedhof wird er verhaftet, ebenso fünf westliche Journalisten, denen man wie Grimm die Filme wegnimmt. Alle werden über Stunden festgehalten. Als Grund wird ihnen erklärt, das Echo in der Weltpresse auf die Erschießung von Peter Fechter sei ein »unfreundlicher Akt« gegenüber der DDR gewesen.
Zwei Tage nach der Beerdigung vollzieht das Neue Deutschland eine bemerkenswerte Korrektur der bisherigen Sprachregelung. Peter Fechter
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