Mord an der Mauer
wird nicht mehr als Verbrecher bezeichnet, sondern als »junger Bursche«. Diese Kehrtwende hat allerdings wenig mit Einsicht zu tun, vielmehr lässt sich so besser die Deutung lancieren, die West-Berliner Polizei, Journalisten und aufgeputschte Massen hätten durch ihr Verhalten die Bergung des Schwerverletzten verzögert. Dagegen erfährt die Öffentlichkeit nicht, dass sich einer der Schützen offenbart. Der Gefreite Erich Schreiber schickt seiner Freundin in augenscheinlich seelischer Not einen Brief, den die Militärzensur abfängt. Darin gibt er sich die Schuld am Tod Fechters. »Meine liebe Erika, nun schreibst Du, dass Du wissen wolltest, warum ich befördert worden bin. Es ist eine ernste Angelegenheit gewesen, die einem bestimmt nicht jeden Tag zustößt. Ich habe einen Grenzverletzer, der die Grenze von Ost nach West überqueren wollte, erschossen. Wenn Dich das stören sollte und Du mit einem ›Mörder‹ nichts mehr zu tun haben möchtest, spreche bitte, bitte mit niemandem darüber. Dein Erich«.
Gedanken über das Geschehen nach dem Tod Peter Fechters machen sich auch die politisch Verantwortlichen im Westen. Heinrich Albertz bekennt im Spiegel -Interview, mit einer so heftigen Reaktion nicht gerechnet zu haben. Fechters Tod habe die Ohnmacht des Westens demonstriert und die Bevölkerung desillusioniert. Das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen erklärt sich am 23. August in einem vertraulichen Schreiben die Demonstrationen in West-Berlin »als Ausbruch des lang angestauten Hasses gegen die Absperrungsmaßnahmen in Berlin«, außerdem hätten die Menschen kein Vertrauen in die Schutzmächte, sie glaubten nicht an deren Standhaftigkeit. Auch habe die Bevölkerung anlässlich des Jahrestages am 13. August mehr Haltung von Bundesregierung und Senat erwartet. In dieser angespannten psychologischen Situation habe es zur Entladung der Wut »nur eines neuen Anstoßes« bedurft – und das sei der Mord an Peter Fechter gewesen.
Willy Brandt schließlich stimmt seine Parteifreunde in West-Berlin auf einen neuen Kurs ein. Zwar hat Kanzler Adenauer einen Brief an die vier Mächte entworfen, in dem er mit Verweis auf Peter Fechter Änderungen beim Grenzregime anmahnt – die Hilfe in Todesnot gehöre zu den elementaren Regeln menschlichen Zusammenlebens, und »einem jungen Deutschen wurde sie mitten in einer Großstadt der zivilisierten Welt vor unseren Augen verwehrt«. Doch zu spürbaren Sanktionen gegen die DDR kann er sich nicht durchringen, und Brandts Ansinnen, zu prüfen, ob die UN-Menschenrechtskommission sich mit der Lage an der Mauer befassen soll, schmettert das Bundeskabinett ab. Obschon Brandt das ärgert, zieht er dennoch ein positives Fazit. Die Empörung der West-Berliner sei ein gutes Zeichen dafür, dass sie sich »mit dem zu beklagenden Opfer an der Zimmerstraße identifizierten«, sagt er auf einem Treffen mit SPD-Funktionären. Gleichwohl zeige das Geschehen, politisches Wunschdenken führe nicht weiter, »juristische Spintisiererei« schon gar nicht. Es gehe nun darum, sich stärker um Verbesserungen im »Personenverkehr zwischen beiden Teilen der Stadt« zu bemühen. Denn, so der Regierende Bürgermeister Tage zuvor gegenüber der internationalen Presse: »Das Wohl der Stadt steht höher als der Hass gegen die Mauer. Die Mauer muss weg, aber bis dahin muss Berlin mit ihr leben.«
Gedenken
A llen unvergessen« – diese schlichten Worte auf dem Grabstein Peter Fechters in Berlin-Weißensee wirken wie Nadelstiche. Sie widersetzen sich fast trotzig der offiziellen DDR-Lesart, nach der Opfer der Staatsgrenze keiner Erinnerung würdig seien. Denn nicht nur die Hinterbliebenen fordert die Mahnung »Allen unvergessen« zum steten Gedenken an den Tod eines geliebten Menschen.
Im Ostteil der Stadt unterbinden die Mächtigen jedes öffentliche Gedächtnis an Peter Fechter. Auf der anderen Seite der Mauer jedoch beginnt das Gedenken bereits am Tag seiner Ermordung: Dieter Beilig gräbt noch am 17. August 1962 sein dunkel gebeiztes Holzkreuz so nah wie möglich an der Mauer ein, die Seite mit der weißen, etwas zittrigen Aufschrift »Wir klagen an« weist in Richtung DDR. Kaum steht das improvisierte Mahnmal, legen die ersten West-Berliner Kränze nieder. Am folgenden Tag schon füllt sich der Boden: »Gegen o8:40 Uhr erscheinen 15 Zivilpersonen und legen Blumen am Kreuz nieder«, vermerken die Volkspolizei in ihrem Tagesprotokoll sowie die 1. Grenzbrigade in ihrem Rapport für
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