Mord an der Mauer
einstecken. 1968 stirbt Heinrich Fechter mit nur 63 Jahren; er hat den Tod seines Sohnes nicht verwinden können, der ihn noch stiller gemacht hat. Für seine Frau Margarete ist das ein Verlust, der sie noch weiter verbittern lässt. Ihrer adoptierten Enkelin Jutta fehlt zusehends familiäre Herzlichkeit. Die häufigen Besuche auf dem Friedhof werden für die Jüngeren zur Belastung, während sie für Fechters Mutter zum Alltag geworden sind. Allem Leid zum Trotz, das ihr zugefügt wurde, vollzieht sie keinen totalen Bruch mit dem SED-Staat, jedenfalls nicht nach außen hin. Vielleicht aus Angst um die Zukunft der Familie, vielleicht um sich keine Blöße und dem Regime keinen weiteren Anlass für Sanktionen zu geben, vielleicht auch einfach nur aus dem Gefühl heraus, nicht auch noch das zu verlieren, was ihr geblieben ist. Mitte der 70er-Jahre hält Enkelin Jutta es nicht mehr aus. Nach ihrer Ausbildung zur Kindergärtnerin möchte sie in eine eigene Wohnung ziehen, was in Ost-Berlin aber nahezu unmöglich ist. Kurz entschlossen sucht sie sich an der Ostsee eine Stelle als Saisonkraft in der Gastronomie – und bleibt. Ruth, deren Tochter Simone 1971 geboren wird, wohnt noch eine Weile in der Behaimstraße, ehe auch sie die elterliche Wohnung verlässt.
Ab und an signalisiert das SED-Regime den Fechters etwas Entgegenkommen. Weil in der DDR Arbeitskräfte knapp werden, gestattet man Gisela Geue nach Jahren, wieder zu arbeiten, zunächst stundenweise und weit unter Qualifikation: im Handel, auf dem Weihnachtsmarkt. Schließlich wird sie wie ihre Mutter Verkäuferin und übernimmt von ihr sogar die Leitung des Uhrengeschäfts in Weißensee. Mitte der 70er-Jahre stirbt in West-Berlin Lieselotte, die älteste Tochter der Fechters. Obwohl es aussichtslos erscheint, beantragt die Mutter eine Reiseerlaubnis, um der Beerdigung beizuwohnen. Tatsächlich darf sie mit ihrer Tochter Gisela in den Westen reisen, die anderen Familienmitglieder aber müssen zu Hause bleiben. Gisela Geue kehrt noch am Abend zurück, ohne das Mahnmal für ihren Bruder gesehen zu haben. Ihre Mutter bleibt ein paar Tage länger, um sich um ihre Enkel zu kümmern. Nach der Rückkehr zögert Gisela, ihre Mutter zu fragen, ob sie das Mahnmal besucht habe. Wenn, dann würde sie es von allein erzählen. Die Mutter schweigt.
Die Fechters dürfen sogar ihre Westverwandten empfangen, etwa aus Wuppertal. Zwar muss Margarete Fechters jüngere Tochter Ruth diese Besuche, vornehmlich zu Ostern, bei ihren Vorgesetzten melden, aber das ist lediglich eine Formalie. Ruth arbeitet als Sekretärin und hat eine Stelle im Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen bekommen. Man trägt ihr an, in die SED einzutreten, was sie aber ablehnt.
Die offensichtliche Beschattung durch die Stasi hat mit den Jahren nachgelassen. Lediglich zu den Jahrestagen des Mauerbaus und des Todes von Peter Fechter stehen auffällig unauffällig fremde Fahrzeugen vor den Wohnungen der Fechters. Unter Druck setzt das SED-Regime sie dennoch unvermindert. Bei Auszeichnungen oder der Vergabe von Urlaubsplätzen geht Gisela Geue leer aus. Oft hört sie: »Du bist vorgeschlagen.« Dann heißt es: »Du doch nicht.« Ihrem Mann, der Sportlehrer ist, wird der Titel »Meister des Sports« für seine Aktivitäten im Schulsport verwehrt und damit auch die Geldprämie, die mit dieser Auszeichnung verbunden ist. Man habe Zweifel an seiner politischen Einstellung und seiner Eignung als Lehrer, notieren die Verantwortlichen. Klaus Geue, der nie der SED beitritt, hat Glück, dass sein Schulleiter Schlimmeres verhindert.
Regelmäßig erkundigt sich die Stasi auch beim Nachbarn, der das sogenannte Hausbuch für Besucher führt, ob die Geues sich negativ über den Staat äußern und wen sie empfangen. Außerdem verschafft man sich Zutritt zur Wohnung. Eines Tages kommen Gisela und Klaus Geue nach Hause, und Gisela riecht den Duft eines ihr fremden Aftershaves. »Hast du dir neues Rasierwasser gekauft?«, fragt sie ihren Mann, der wahrheitsgemäß verneint. Solche Erlebnisse hinterlassen Spuren. Ihr allgemeines Misstrauen den Menschen gegenüber wird chronisch. Wenn irgendwas im Alltag oder Beruf nicht gelingt, sagen sich die Geues: »Ist ja kein Wunder.«
Noch immer halten sie sich an das ihnen auferlegte Verbot, über den Tod Peters zu reden. Besonders gegenüber ihren Kindern fällt das schwer, die Peter nur von dem Foto kennen, das auf der Kommode seiner Eltern steht, ihrer Großeltern also. Der schwarze
Weitere Kostenlose Bücher