Mord an der Mauer
reagieren sie konsterniert. »In der Staatsanwaltschaft sitzen doch noch die alten Leute«, stellt Ruth Fechter fest: »Und da soll ich hingehen? Nein!« Wie Gisela Geue hat auch sie keinerlei Vertrauen in die DDR-Justiz. Dennoch ringen sich die beiden durch, einen Brief an Bösel aufzusetzen. Einen Tag vor der Ausstrahlung des Interviews schreiben sie am 2. Juli 1990 ihrem Wissensstand entsprechend: »Am 17. August 1962 wurde unser Bruder Peter Fechter im Bereich Checkpoint Charlie während seiner Tätigkeit als Maurer angeschossen und circa zwei Stunden liegen gelassen, wo er dann elendig verblutete.« Im Namen der ganzen Familie erstatten die Schwestern Anzeige erstens gegen die Offiziere und Soldaten, die auf ihren Bruder schossen, zweitens gegen die Verantwortlichen, die ihn verbluten ließen, und drittens gegen Erich Honecker, der den Schießbefehl durchgesetzt und damit gegen die Menschenrechte verstoßen habe. Gisela Geue und Ruth Fechter nehmen an, Peter habe nicht fliehen wollen, sondern »an seiner Sterbestelle als Maurer die Mauer aufgebaut«. Ihr Ziel sind Anklagen gegen die unmittelbaren Täter und die Befehlsgeber. Außerdem wollen sie die öffentliche Rehabilitierung ihres Bruders erreichen, eine formelle Entschuldigung der DDR-Medien für die Hetze gegen das Opfer im Jahr 1962 und finanzielle Unterstützung für ihre inzwischen schwer kranke Mutter.
Zwei Wochen später antwortet Bösel: »Ich habe bereits die Akten angefordert.« Der Militäroberstaatsanwalt sagt zu, Ermittlungsverfahren gegen die Täter einzuleiten, stellt aber zugleich fest: »Zum Zeitpunkt des Todes Ihres Bruder ergeben sich jedoch nach gegenwärtigen Erkenntnissen keine Verantwortlichkeiten für Erich Honecker.« 1962 sei Honecker schließlich noch nicht Generalsekretär der SED gewesen und ebenso wenig Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrats, des obersten Militärgremiums der DDR. Der NVA-Oberst ignoriert die allgemein bekannte Tatsache, dass Honecker den Bau der Berliner Mauer persönlich geleitet hat. Möglicherweise aber ist Bösel tatsächlich nicht bekannt, dass der Bericht vom 18. August 1962 über Peter Fechters Tod in nur fünf Exemplaren verbreitet worden ist, darunter an erster Stelle an den »Gen. Hon.«, wie das interne Kürzel für Honecker lautete.
Zu nennenswerten Ergebnissen führen die Ermittlungen der Militärstaatsanwaltschaft bis zum Ende der DDR am 3. Oktober 1990 nicht. Trotzdem verfolgt die nun gesamtdeutsche Justiz den Fall Peter Fechter weiter. Als die beiden Schwestern ihre Anzeige formulieren, können sie nicht ahnen, dass bereits seit 28 Jahren eine Strafanzeige unter dem Aktenzeichen WB 2273/62 vorliegt, die West-Berliner Polizisten »von Amts wegen« noch am Tattag erstattet haben. Sie richtet sich »gegen unbekannt« und lautet auf Totschlag an Fechter sowie versuchten Totschlag an Helmut Kulbeik. Routinemäßig gelten nach westdeutschem Recht Todesfälle an der Mauer juristisch als Totschlag, denn für Mordmerkmale wie niedere Beweggründe, Heimtücke oder besondere Grausamkeit sehen die zuständigen westlichen Beamten meist nicht genügend Indizien.
Obwohl Ruth Fechter an die nun zuständige Berliner Justizsenatorin Jutta Limbach schreibt und sie um beschleunigte Bearbeitung ersucht, schleppen sich die Ermittlungen hin, konzentriert sich das Interesse der Strafverfolger doch zunächst auf den ersten Mauerschützenprozess, den Karin Gueffroy erzwungen hat, die Mutter des letzten an der Berliner Mauer erschossenen »Republikflüchtlings«. Dieses Verfahren ist von wegweisender Bedeutung, denn die Richter des Landgerichts Berlin müssen klären, ob der nach DDR-Sichtweise zulässige, ja von den Grenzposten zwingend erwartete Gebrauch ihrer Waffen zur Verhinderung von Fluchten über die innerdeutsche Grenze überhaupt bestraft werden darf. Immerhin gibt es im deutsch-deutschen Einigungsvertrag eine Festlegung, der zufolge gesamtdeutsche Gerichte bei Verbrechen auf dem Boden der DDR »von Strafe absehen, wenn nach dem zur Zeit der Tat geltenden Recht der Deutschen Demokratischen Republik weder eine Freiheitsstrafe noch eine Verurteilung auf Bewährung noch eine Geldstrafe« zu erwarten gewesen wären. Andererseits ist klar erkennbar, dass jeder Schuss auf einen Flüchtling gegen grundlegende Menschenrechte verstoßen hat. Die Praxis der untergegangenen DDR steht also gegen übergesetzliches Recht. Juristisch eine schwierige Abwägung.
Peter Fechters Mutter erlebt das nicht mehr. Die
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