Mord an der Mauer
Trauerflor am Bilderrahmen reizt beim Besuch zu Fragen:
»Wer ist das?«
»Dein Onkel.«
»Ist der tot?«
»Ja.«
»Warum?«
»Er war sehr krank.«
Eine ähnliche Antwort erhält auch Mario Remmert, der 1961 geborene Sohn von Peters Cousin Jürgen, der einmal kindlich-naiv wissen will, wo der Onkel denn eigentlich sei. Selbst Simone Fechter, die mit ihrer Mutter Ruth im Haushalt der Großmutter lebt und von ihnen verwöhnt wird, erfährt nichts über die genauen Umstände. Sie wundert sich bloß, dass ihre Oma richtige Hassgefühle zeigt, wenn sie Karl-Eduard von Schnitzler im Fernsehen sieht. Der habe ihren Sohn einmal einen Verbrecher genannt, schimpft sie dann – den genauen Zusammenhang lässt sie im Unklaren. Die Erwachsenen wollen die Kinder mit dem Trauma der Familie nicht belasten und zugleich verhindern, dass eines sich verplappert.
Als ihr Sohn 14 oder 15 Jahre alt ist, nehmen Gisela und Klaus Geue ihn zur Seite und klären ihn über das Schicksal seines Onkels und dessen »Krankheit« auf. Zugleich verpflichten sie ihn zur Verschwiegenheit. Der Sohn ist reif genug, um zu verstehen, dass Eltern ihren Kindern nicht immer alles sagen können, dass das ein Schutzreflex sein kann. Wie vor den Kopf geschlagen fühlt er sich trotzdem. Nicht weil die Eltern ihm lange die Wahrheit vorenthalten haben, sondern weil er das Gehörte schwer begreifen kann, darauf weder vorbereitet ist noch weiß, wie er damit umgehen soll. Er schließt sein Wissen in sich ein. Nur einmal im Jahr können und wollen die Fechters die Erinnerung nicht verdrängen: wenn im Westfernsehen über den 13. August berichtet wird und über Peter Fechter. Dann achtet die Familie darauf, möglichst keine Sendung zu verpassen – das kommt einem Gedenken aus der Ferne gleich.
Solche Gefühle verlassen auch die Augenzeugen der Flucht vom 17. August 1962 nie ganz. Obwohl die Erinnerung verblasst, wird sie immer wieder lebendig. Zu Anfang taucht sie täglich auf, sobald das seinerzeit verhaftete Pärchen Renate Pietsch und Wolf-Dieter Zupke in die Union- Druckerei zur Arbeit geht. Lange kann Renate nicht verstehen, dass mitten im Frieden ein junger Mensch vor ihren Augen erschossen wurde, und wenn im Westfernsehen an Fechters Tod erinnert wird, kommt alles wieder hoch. Auch vor Zupkes innerem Auge laufen auf dem Weg zum Betrieb immer wieder die Szenen vom 17. August 1962 ab: die Schießerei, der würdelose Tod Fechters, seine eigene Festnahme. Und andere erinnern ihn daran. Im Jahr 1965 muss Zupke zum Wehrdienst, er wird als Fahrer eingesetzt. Sein Hauptfeldwebel, der die Personalunterlagen verwaltet, spricht ihn eines Tages an: »Zupke, hast du mal Ärger mit der Polizei gehabt?« Dieser antwortet zögerlich: »Nein.« Darauf der Spieß: »In deinen Unterlagen steht, du würdest nicht zur DDR stehen.« Wie Wolf-Dieter Zupke erfährt, stammt diese Einschätzung vom Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei in seinem Wohnviertel.
Fortbildungen und Arbeitsplatzwechsel führen ihn zeitweilig fort, doch Ende der 70er-Jahre kehrt er als Produktionsleiter in die Union-Druckerei zurück. Dort ist er für die Tageszeitung Neue Zeit , aber auch die Kirchenblätter zuständig. Obwohl inzwischen die Grenzanlagen verstärkt worden sind, gelingt einem Buchbinder, den Zupke eingestellt hatte, eines Tages die Flucht in den Westen; er flieht zudem fast an der gleichen Stelle wie Helmut Kulbeik. Wie 1962 muss Zupke sich von der Stasi Fragen zu einem Flüchtling gefallen lassen.
Der Volkspolizist Heinrich Mularczyk verrichtet weiter Streifendienst, in dem er oft mit Verkehrstoten oder Selbstmördern zu tun hat. Wenngleich ihm die Begegnung mit dem Tod in solchen Fällen nicht so nahegeht wie bei Peter Fechter. Das Bild des »zusammengeklappten Bündels« in seinen Armen und das Blut an der Kleidung des Sterbenden, das seine Uniform durchtränkt, all das hat sich im Gedächtnis festgesetzt. Mularczyk redet mit niemandem über sein Erlebnis am 17. August 1962, mit Kollegen schon gar nicht. Der weitere Berufsweg hilft beim Verdrängen. Anfang der 80er-Jahre sattelt er um und wird Abschnittsbevollmächtigter in einem der neuen Wohnquartiere in Ost-Berlin. Als Oberleutnant der Volkspolizei erlebt Mularczyk den Mauerfall.
Ohne augenscheinliche Wirkung bleibt das Erlebnis für Dieter Breitenborn. Irgendwann nach dem 17. August 1962 verlässt er die Redaktion der Neuen Zeit und arbeitet als freier Fotograf für andere Zeitungen, aber auch Museen. Seine
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