Mord an der Mauer
Familie merkt, mit welcher Geschwindigkeit sie die Kräfte verlassen. Im Februar 1991 stirbt sie im Alter von 76 Jahren. Wieder kommen Fechters zum Bestattungsunternehmen Kadach & Maurer in Weißensee. Wieder kümmert sich Monika Hennig um das Begräbnis, und wieder geht es eher geschäftsmäßig zu, auch weil sich die Bestatterin nicht traut, nach Peter Fechter zu fragen. Das Grab seiner Mutter wird seinem genau gegenüberliegen, auf dem rötlichen Stein ist lediglich »Familie Fechter« zu lesen.
Kurz darauf gibt es einen ersten Durchbruch. Die zuständigen Staatsanwälte verfügen zwar über Aussagen West-Berliner Augenzeugen und über Fotos, aber bislang fehlen ihnen konkrete Hinweise auf die Todesschützen und andere Personen, die auf Ost-Berliner Seite beteiligt gewesen sind. Da entdeckt Mitte März 1991 die Personalauswahlkommission der Berliner Polizei, die ehemalige Volkspolizisten vor einer möglichen Weiterbeschäftigung überprüft, im Fragebogen von Heinrich Mularczyk den »vagen Hinweis auf einen Zwischenfall Ecke Charlottenstraße«. Der zuständige Beamte befragt den übergangsweise als Polizeihauptkommissar angestellten ehemaligen VP-Oberleutnant und erfährt, dass Mularczyk »während seiner damaligen Streifentätigkeit zu dem Fluchtfall gerufen worden« sei und »den Schwerverletzten, der seiner Meinung nach noch gelebt hat, zu einem Fahrzeug getragen« habe. In einem Aktenvermerk hält der West-Berliner Polizist fest: »An weitere Einzelheiten will sich Herr Mularczyk nicht mehr erinnern können. Den Namen des Opfers will er erst viel später erfahren haben. Er erinnert sich aber, sein Bild an der Hauswand der Ausstellung zur Mauer am Checkpoint Charlie gesehen zu haben.«
Für die Zentrale Ermittlungsgruppe für Regierungs- und Vereinigungskriminalität ist das ein wichtiger Hinweis, denn er zeigt, dass es Tatzeugen außerhalb des engen Kreises der Grenzposten gibt. Mularczyk gehört zu den Ersten, die in Sachen Peter Fechter vernommen werden, erstmals am 7. Juli 1992. Er rechnet damit, zur Rechenschaft gezogen zu werden, doch er wird nur als Zeuge befragt und der Beihilfe zu keinem Zeitpunkt verdächtigt. Im Gegenteil, Mularczyk wird in den Gesamtberliner Polizeidienst übernommen.
Inzwischen ist die 4. Mordkommission des Landeskriminalamts für die Untersuchung zuständig. Noch richtet sich die Ermittlung nach Aktenlage »gegen unbekannt«. Doch das ändert sich, als in den Archiven der NVA und der Stasiunterlagen-Behörde bislang streng geheime Berichte über Fechters Tod auftauchen. Anfang 1993 erfahren die Kriminalisten zunächst die Nachnamen und Ränge der vier Grenzposten, die am 17. August 1962 geschossen haben, wenig später auch ihre Vornamen und Geburtsdaten. Parallel dazu verrichten die Ermittler ganz normal ihre Arbeit – was etwa auch beinhaltet, dass sie ihre ehemaligen Ost-Berliner Kollegen befragen. Im Frühjahr 1993 vernimmt die Mordkommission mehrfach jede Woche Zeugen der 31 Jahre zurückliegenden Ereignisse. Renate Pietsch ist darunter, ebenso Wolf-Dieter Zupke und der West-Berliner Polizist Harry Bergau. Beim europäischen Hauptquartier der US-Armee in Heidelberg wird angefragt, ob es Unterlagen zu dem Zwischenfall an der Mauer gebe, was ausweichend beantwortet wird: Diesseits des Atlantiks nicht, aber es laufe eine Recherche in Washington D. C. Ergebnisse bringt diese Anfrage nicht. Und trotzdem verdichten sich die Indizien, die sich auf sechs Namen konzentrieren: auf die damaligen Grenzpolizisten Rolf Friedrich, Erich Schreiber und Siegfried Buske sowie deren direkte Vorgesetzte, die Offiziere Heinz Schäfer, Martin Leistner und Fritz Gelhar. Der vierte Schütze, Hans Schönert, war bereits im Frühjahr 1990 gestorben.
Nun kann die Mordkommission zwar dringend tatverdächtige Personen benennen, aber der größte Teil ihrer Arbeit steht ihr noch bevor: Sie muss die individuelle Beteiligung am Tod Peter Fechters feststellen und der zuständigen Staatsanwaltschaft genügend Material für eine tragfähige Anklageschrift liefern. Von entscheidender Bedeutung ist es, die genaue Todesursache festzustellen. Es reicht nicht, zu wissen, dass Fechter niedergeschossen worden und anschließend verblutet ist. Allerdings zeigt sich bald, eine wesentlich genauere Rekonstruktion des Tathergangs wird nicht leicht sein, denn der Bericht über die damalige gerichtsmedizinische Untersuchung an der Charité lässt sich nicht mehr auffinden. Obschon das Obduktionsbuch des
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