Mord au chocolat
mal, auch ich habe einen Freund. O Gott, warum erinnere ich mich nicht daran? Dieser Freund will mir eine Frage stellen, wenn das Timing richtig ist. Kein gutes Zeichen, oder? Ich meine, dass ich mich nicht an Tad erinnern kann, sobald er aus meinem Blickfeld verschwindet. Kein verheißungsvolles Omen für die Zukunft unserer Beziehung. Ebenso wenig wie das Lächeln eines anderen Mannes, das mir nicht aus dem Kopf geht. Und – okay, ich will ehrlich sein – seine Hände …
Was stimmt denn nicht mit mir?
Als ich meinen Schreibtisch erreiche, klingelt das Telefon. Im Display steht die Nummer von Dr. Stanley Jessup, dem Leiter der Housing-Abteilung.
»Hi, Dr. Jessup«, melde ich mich. »Was kann ich für Sie tun?«
»Würden Sie mir erklären, warum Sie Mark Halstead zur Persona non grata erklärt haben?«
»Oh, weil er regelmäßig eine meiner Studentinnen begrapscht. Wirklich, eine sonderbare Geschichte. An dem Morgen, als Dr. Veatch erschossen wurde, hatte sie einen Termin bei ihm, die beiden wollten eine formelle Beschwerde einreichen.«
»Sind Sie sicher, dass dieses Mädchen die Wahrheit sagt?«
»Eh – ja«, antworte ich erstaunt. »Warum?«
»Vielleicht möchten Sie diese Persona-non-grata-Formulare zurückziehen. Reverend Mark hält nämlich die Gedenkfeier für Owen ab, bei der Sie eine Rede halten werden, Heather. Also könnten die nächsten Stunden Ihres Lebens ziemlich unangenehm verlaufen.«
17
Tritt heraus aus dem Schatten,
Tritt ins Rampenlicht,
Zeig der Welt, wie du sein willst,
Und versteck dich nicht.
»Who You Really Are«,
Heather Wells
»Wer war Dr. Owen Veatch?«
Mit dieser offensichtlich rhetorischen Frage beginnt Reverend Mark Halstead seine Ansprache. Ich schaue mich um und versuche herauszufinden, ob irgendjemand auf den Klappstühlen zu beiden Seiten eine Antwort weiß. Anscheinend niemand. Alle senken die Köpfe – nicht, um zu beten, sondern um die Gesichter in den Displays ihrer Handys oder BlackBerrys zu studieren.
Wie nett.
»Ich erkläre Ihnen, wer Dr. Owen Veatch war«, fährt Reverend Mark fort, »ein Mann mit starken Überzeugungen, der den Mut aufbrachte, sich zu erheben und nein zu sagen.« Bei dem Wort »nein« breitet er die Arme aus, und die langen Ärmel seiner Robe flattern wie ein weißer Umhang. »Dr. Owen Veatch sagte nein zu der
Gefahr, diese College-Gemeinde könnte sich spalten, das New York College könnte von irgendeiner Gruppe vereinnahmt werden, die ihren Glauben für richtiger hält als jeden anderen. Dazu sagte er einfach nein...«
Muffy Fowler schlägt ihre langen, schwarz bestrumpften Beine übereinander – warum bin ich nicht nach Hause gegangen, um was anderes anzuziehen? Ich trage immer noch meine Jeans. Bei der Gedenkfeier für meinen Boss. Offenbar bin ich eine ganz miese Angestellte. Dieses Jahr werde ich keinen Pansy-Preis kriegen. Muffy neigt sich zu mir und wispert in mein Ohr: »Finden Sie ihn nicht auch süßer als Jake Gyllenhaal?«
Tom fächelt sich mit einer US Weekly, die er auf dem Weg nach draußen an der Rezeption entwendet und zwecks moralischer Unterstützung mitgenommen hat, Kühlung zu und blinzelt schockiert. »Hüten Sie Ihre Zunge, Miss«, zischt er.
»Sie habe ich nicht gefragt«, entgegnet Muffy. Mit unserer Tuschelei müssen wir vorsichtig sein, denn wir sitzen in der zweiten Reihe, allerdings an der Seite, weit entfernt von dem hölzernen Podest, auf dem Reverend Mark gerade seine Faust emporreckt. Wir wurden schon einmal beim Flüstern ertappt, er warf uns einen strafenden Blick zu, den sicher alle sahen, sogar die Leute in der letzten Reihe.
In der Reihe vor uns sitzt Pam – nennen Sie mich nicht Mrs Veatch -, flankiert von Mrs Allington, der Gattin des Präsidenten, und einer Frau, die nur Owens Mutter sein kann. Mrs Veatch Senior. Mit ihren etwa achtzig Jahren sieht sie aus, als könnte sie jeden Moment tot umfallen. Dazu braucht sie keine Kugel. Die Gesichter tränenüberströmt, blicken alle drei Frauen zu Reverend Mark auf.
Nur Mrs Allingtons Tränen stammen wahrscheinlich aus dem Fläschchen, das sie in ihrer Prada-Tasche verwahrt und an dem sie regelmäßig nippt, wenn sie glaubt, niemand würde hinschauen. Bei jedem Schluck notiert Tom irgendwas in seinem BlackBerry. Den hat er wohl mitgebracht, weil er handlicher ist als sein Kalender.
»Dieser Mann, dieser engagierte Pädagoge, der so felsenfest an seine Überzeugungen glaubte, der diesen Campus in eine sichere, gerechte
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