Mord auf der Leviathan
sich abzulenken. Der Mörder war Arzt!« resümierte der Kommissar zufrieden. »Und nun der Beweis Nummer zwei. Haben Sie, meine Herrschaften, schon vom japanischen Kampf gehört?«
»Nicht nur gehört, ich habe ihn gesehen«, sagte der Kapitän. »Einmal in Macao war ich dabei, wie ein japanischer Steuermann drei amerikanische Matrosen verprügelte. Ein schmächtiges Männlein, das man scheint’s umpusten konnte, aber wie er sprang und mit Armen und Beinen zuschlug – er warf die drei bärenstarken Waljäger zu Boden. Dem einen hieb er die Handkante gegen den Arm, worauf der Ellbogen nach der anderen Seite stand, er hatte ihm den Knochen durchschlagen, können Sie sich das vorstellen? Solch ein Schlag!«
Coche nickte zufrieden.
»Ich habe auch gehört, daß die Japaner das Geheimnis des tödlichen waffenlosen Kampfes beherrschen. Sie können einen Menschen mit nur einem Finger töten. Wir alle haben mehr als einmal gesehen, wie Herr Aono seine Gymnastik machte. In seiner Kabine unterm Bett wurden Stücke eines Kürbis gefunden, der sehr hart gewesen sein muß. Und in einem Sack hatte er noch mehrere heile. Sie dienten dem Beschuldigten wohl dazu, die Kraft und Genauigkeit seines Schlags zu üben. Ich kann mir nicht vorstellen, was für Kraft man haben muß, um einen harten Kürbis mit der bloßen Hand zu zerschlagen, noch dazu in mehrere Stücke.«
Der Kommissar blickte die Anwesenden vielsagend an und spielte den Beweis Nummer zwei aus: »Ich erinnere Sie daran, meine Herrschaften, daß der Schädel des unglücklichen Lord Littleby durch den ungewöhnlich starken Schlag mit einem schweren stumpfen Gegenstand in mehrere Bruchstücke zertrümmert wurde. Betrachten Sie jetzt die schwieligen Handkanten des Beschuldigten.«
Der Japaner nahm seine kleinen sehnigen Hände mit einem Ruck vom Tisch.
»Jackson, lassen Sie den Mann nicht aus den Augen, er ist sehr gefährlich«, warnte Coche. »Wenn was ist, schießen Sie ihn ins Bein oder in die Schulter. Ich möchte Herrn Aono fragen: Wo haben Sie das goldene Abzeichen gelassen? Sie schweigen? Dann antworte ich für Sie: Das hat Ihnen Lord Littleby abgerissen, als Sie ihm den tödlichen Schlag mit der Handkante versetzten.«
Aono öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, aber er biß sich mit den ein wenig schiefen kräftigen Zähnen auf die Lippen und schloß die Augen. Sein Gesicht wirkte sonderbar entrückt.
»Es ergibt sich folgendes Bild des Verbrechens in der Rue de Grenelle«, erklärte Coche. »Am Abend des 15. März erschien Gintaro Aono in der Villa von Lord Littleby mit der vorgefaßten Absicht, alle Bewohner des Hauses zu töten und sich das dreieckige Tuch aus der Sammlung des Hausherrn anzueignen. Zu diesem Zeitpunkt besaß er schon ein Billett für die ›Leviathan‹, die vier Tage später von Southhampton nach Indien auslaufen sollte. Offensichtlich wollte der Beschuldigte in Indien nach dem Schatz von Brahmapur suchen. Wir wissen nicht, wie es ihm gelang, die unglückliche Dienerschaft zu der ›Choleraimpfung‹ zu überreden. Wahrscheinlich hat er ein gefälschtes Papier der Pariser Mairie vorgewiesen. Das dürfte durchaus glaubhaft gewirkt haben, weil, wie ich aus der Depesche weiß, mitunter tatsächlich Medizinstudenten des Absolventensemesters der Sorbonne für prophylaktische Maßnahmen herangezogen werden. Unter den Studierenden und Stationsärzten der Universität sind viele Asiaten, so daß die gelbe Haut des abendlichen Besuchers die zum Tode verurteilten Bediensteten kaum irritiert haben mag. Am ungeheuerlichsten ist die unmenschliche Grausamkeit, mit der zwei unschuldige Kinder getötet wurden. Meine Herrschaften, ich habe nicht wenig Erfahrung im Umgang mit dem Abschaum der Gesellschaft. Im Eifer des Gefechts kann ein Bandit wohl einen Säugling in den Kamin werfen, aber so, mit kalter Berechnung, mit ruhiger Hand … Sie werden zugeben, das ist nicht französisch und nicht europäisch.«
»Vollkommen richtig!« rief Regnier zornig, und Doktor Truffo pflichtete ihm von Herzen bei.
»Das Weitere war einfach«, fuhr Coche fort. »Der Mörder überzeugte sich, daß die von den Injektionen vergifteten Bediensteten in tiefem Schlaf lagen, aus dem sie nicht wieder erwachen sollten, stieg dann seelenruhig hinauf in den ersten Stock, in den Saal, wo die Sammlung aufbewahrt wurde, und ging dort ans Werk. Er war ja überzeugt, daß der Hausherr verreist sei. Aber der unglückliche Lord Littleby war wegen eines Podagraanfalls nicht nach
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