Mord auf der Leviathan
vor und dröhnte: »Gut, gehen wir in meine Kabine, wenn Sie solchen Wert darauf legen.«
Clarissa gewann den Eindruck, daß der Polizist keine Ahnung hatte, was Madame Kleber ihm gestehen würde.
Nun, das war dem Kommissar kaum vorzuwerfen – Clarissa kam ja mit dem Tempo der Ereignisse auch nicht mit.
Kaum hatte sich die Tür hinter Coche und seiner Begleiterin geschlossen, warf Clarissa einen fragenden Blick auf Fandorin, der als einziger zu wissen schien, was vorging. Zum erstenmal wagte sie ihn wieder direkt anzusehen, nicht von der Seite und unter gesenkten Wimpern hervor.
Noch nie hatte sie Erast (ja, im stillen konnte sie ihn beim Vornamen nennen) so entmutigt gesehen. Seine Stirn war gefurcht, in den Augen stand Unruhe, die Finger trommelten nervös auf dem Tisch. Sollte auch dieser selbstsichere, blitzartig reagierende Mann die Kontrolle über den Lauf der Ereignisse verloren haben? In der vergangenen Nacht hatte sie ihn schon verlegen gesehen, doch nur für einen Moment. Da hatte er rasch seine Fassung wiedergefunden.
Das war so gewesen.
Nach der Katastrophe von Bombay hatte sie sich drei Tage in ihrer Kabine verkrochen. Sie hatte der Stewardeß gesagt, sie wäre krank, und hatte sich das Essen bringen lassen. Nur im Schutz der Nacht war sie spazierengegangen, wie eine Diebin.
An ihrer Gesundheit war nichts auszusetzen, aber wie sollte sie den Zeugen ihrer Schmach vor die Augen treten, besonders
ihm
? Der Schurke Coche hatte sie zum Gespött gemacht, sie gedemütigt, mit Schmutz beworfen. Und das Schlimmste, sie konnte ihn nicht mal der Lüge zeihen – es stimmte alles, vom ersten bis zum letzten Wort. Ja, gleich nachdem sie ihr Erbe angetreten hatte, war sie nach Paris geeilt, in die Stadt, von der sie so viel gehört und gelesen hatte. Wie eine Motte zum Licht. Und hatte sich die Flügel versengt. Die schmachvolle Geschichte hatte ihr ohnehin den letzten Krümel Selbstachtung geraubt, und jetzt wußten auch noch alle: Miss Stomp ist ein Flittchen, eine vertrauensselige Idiotin, verächtliches Opfer eines professionellen Gigolo!
Mrs. Truffo schaute zweimal herein, um nach ihrer Gesundheit zu fragen. Natürlich wollte sie sich nur an Clarissas Demütigung weiden. Sie seufzte gekünstelt und jammerte über die Hitze, aber ihre farblosen Äuglein glitzerten triumphierend – na, meine Liebe, wer von uns ist nun eine richtige Lady?
Der Japaner kam und sagte, bei ihnen sei es üblich, einen »Klankenbesuch« zu machen. Er bot seine ärztlichen Dienste an und blickte teilnahmsvoll.
Endlich klopfte auch Fandorin. Clarissa wies ihn ab und öffnete nicht, berief sich auf ihre Migräne.
Macht nichts, sagte sie sich, während sie ihr Beefsteak in völliger Einsamkeit verzehrte. Die neun Tage bis Kalkutta werden auch vergehen. Neun Tage eingeschlossen zu sein, was war das schon, nachdem sie fast ein Vierteljahrhundert eingesperrt gewesen war. Hier hatte sie es ja viel besser als im Hause ihrer Tante. Sie war allein in einer komfortablen Kabine, hatte gute Bücher. In Kalkutta würde sie sich still und leise ans Ufer verdrücken, um dann wirklich eine neue unbeschriebene Seite anzufangen.
Aber am dritten Tag gegen Abend setzten ihr ganz andere Gedanken zu. Oh, wie recht hatte der Barde, von dem die Zeilen stammten:
Wie süß ist’s doch, die Freiheit zu gewinnen,
wenn alles weg ist, was man schätzte einst!
Wie es aussah, hatte sie tatsächlich nichts mehr zu verlieren. Spät nachts, Mitternacht war schon vorüber, ordnete Clarissa entschlossen ihre Frisur, puderte ein wenig das Gesicht, legte das elfenbeinfarbene Kleid aus Paris an, das ihr so gut stand, und ging in den Korridor. Das Schiff schlingerte, und sie wurde von Wand zu Wand geworfen.
Bemüht, an nichts zu denken, blieb sie vor der Tür der Kabine 18 stehen, die erhobene Hand zögerte für einen Moment, nur für einen Moment, und klopfte.
Erast öffnete fast sofort. Er trug einen dunkelblauen ungarischen Hausrock mit Schnüren, aus dem breiten Ausschnitt schimmerte ein weißes Hemd.
»Ich muß mit Ihnen sprechen«, sagte Clarissa kategorisch, sie hatte nicht einmal gegrüßt.
»Guten A-abend, Miss Stomp«, sagte er rasch. »Ist etwas passiert?«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, bat er: »Einen Moment Geduld. Ich z-ziehe mich rasch um.«
Als er sie einließ, war er im Gehrock mit tadellos gebundenem Halstuch. Mit einer Geste bat er sie, Platz zu nehmen.
Clarissa setzte sich, sah ihm in die Augen und äußerte sich wie folgt:
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